Nach Auffassung des BFH ist eine Zahlung der Wegzugssteuer vor Verkauf der Beteiligung rechtswidrig. Welche Folgen sind aus dem Urteil zu erwarten?
Nach § 6 AStG führt die Beendigung der unbeschränkten Steuerpflicht einer natürlichen Person in Deutschland, z.B. durch Wegzug ins Ausland, zu einer Besteuerung des Wertzuwachses für im Privatvermögen gehaltene Anteile an Kapitalgesellschaften (bei einer Beteiligung von mindestens 1 %). Hintergrund dieser Regelung ist, dass Deutschland in der Regel mit dem Wegzug das Besteuerungsrecht an diesen Anteilen verliert und im Inland gebildete stille Reserven nach dem Wegzug durch den deutschen Fiskus nicht mehr besteuert werden könnten. Um den Verlust des Besteuerungssubstrats zu verhindern, wird beim Wegzug eine fiktive Veräußerung der Kapitalgesellschaftsbeteiligung unterstellt mit der Folge, dass alle bis zum Wegzug entstandenen Wertsteigerungen in den Anteilen nach dem Teileinkünfteverfahren (Steuerpflicht 60 %) besteuert werden. Entsprechendes gilt, wenn Anteile ins Ausland vererbt oder verschenkt werden.
Ohne Liquiditätszufluss stellt diese sog. „Wegzugbesteuerung“ regelmäßig eine hohe Belastung und ein Hindernis für die internationale Mobilität dar. Für Wegzüge bis Ende 2021 konnte die Steuer unbegrenzt und zinslos bis zu einer tatsächlichen Veräußerung der Anteile gestundet werden, wenn der Wegzug in ein EU-/EWR-Land erfolgte. Für Wegzüge in ein Drittland, wie z.B. die Schweiz war eine solche Stundung gesetzlich allerdings nicht vorgesehen. Für Wegzüge ab dem 1. Januar 2022 sieht die gesetzliche Regelung nunmehr unabhängig vom Zuzugsstaat nur noch die Möglichkeit einer Ratenzahlung der Steuer über bis zu 7 Jahre vor.
Festsetzung der Wegzugsteuer ohne Stundung im Urteilssachverhalt
Der Kläger war zu 50% an einer Kapitalgesellschaft mit Sitz in der Schweiz beteiligt und für diese als Geschäftsführer tätig. Im Jahr 2011 verzog der Kläger in die Schweiz. Das Finanzamt sah den Tatbestand der Wegzugsteuer als erfüllt an und setzte die Steuer auf die nicht realisierten stillen Reserven in den Anteilen an der Kapitalgesellschaft fest. Eine zeitlich unbegrenzte und zinslose Stundung wurde nicht gewährt. Hiergegen wehrte sich der Kläger mit der Begründung eines Verstoßes gegen das Freizügigkeitsabkommen (FZA) mit der Schweiz.
Der EUGH bestätigte im Vorabentscheidungsverfahren die Auffassung des Klägers (Urteil „Wächtler“; EuGH, Urteil v. 26. Februar 2019 – C-581/17). Daraufhin gab das Finanzgericht Baden-Württemberg der Klage statt (Urteil v. 31. August 2020 – 2 K 835/19).
BFH: Freizügigkeitsabkommen hindert zwar nicht die Festsetzung der Wegzugsteuer, jedoch verstößt eine Zahlung der Steuer vor Realisierung der stillen Reserven gegen das Freizügigkeitsabkommen mit der Schweiz
Der BFH kam im Revisionsverfahren (Urteil v. 6. September 2023 – I R 35/20) zum Ergebnis, dass das FZA eine Festsetzung der Wegzugsteuer in einem Steuerbescheid nicht hindert, diese jedoch von Amts wegen dauerhaft und zinslos bis zu einem tatsächlichen Verkauf der Anteile zu stunden sei.
Durch die Festsetzung der Steuer wird es ermöglicht, auf den Zeitpunkt des Wegzugs festzuhalten, auf welchen Anteil des Steuersubstrats das Besteuerungsrecht des Wegzugsstaates entfällt.
In den Urteilsgründen geht der BFH detailliert auf die Begründung des EuGH im Urteil Wächtler ein. Nach Auffassung des BFH steht das FZA einem Steuersystem entgegen, in welchem die für die latenten Wertzuwächse von Gesellschaftsanteilen festgesetzte Steuer im Zeitpunkt des Wegzugs bezahlt werden muss, während im Fall der Beibehaltung des Wohnsitzes im selben Mitgliedstaat – trotz Umzugs – die Erhebung erst im Zeitpunkt der Realisierung der Wertzuwächse, d.h. bei der Veräußerung der betreffenden Gesellschaftsanteile, erfolgt. Aufgrund dieses Liquiditätsnachteils könne ein Steuerpflichtiger davon abgehalten werden, von seinem Niederlassungsrecht gemäß FZA Gebrauch zu machen. Um die Niederlassungsfreiheit gemäß FZA zu gewährleisten, müsse die gesamte – zulässigerweise festzusetzende – Steuer bis zu einer Veräußerung der Anteile von Amts wegen dauerhaft zinslos gestundet werden, auch wenn dies im nationalen Gesetz nicht vorgesehen sei.
Folgen des Urteils: Stundung der Steuer für Wegzüge in die Schweiz bis zum 31. Dezember 2021
Ist ein Wegzug in die Schweiz, der in den Anwendungsbereich des FZA fällt, nach der Rechtslage bis 31. Dezember 2021 erfolgt, kann auch dann eine Stundung gewährt werden, wenn die Steuer bereits entrichtet wurde. Hierauf weist der BFH ausdrücklich hin. Dies hat zur Folge, dass eine bereits entrichtete Steuer an den Steuerpflichtigen zurückgewährt und diese gestundet werden muss. Steuerpflichtige, die eine Steuer bereits bezahlt haben, können diese ggf. auf Antrag und Hinweis auf das Urteil zurückfordern. Die Stundung kann allerdings ggf. von einer Sicherheitsleistung abhängig gemacht werden.
Entsprechendes sollte unseres Erachtens auch für andere Fälle gelten, in denen eine zeitlich unbegrenzte zinslose Stundung nicht gewährt wurde, wie z.B. bei Wegzug in einen EU-/EWR-Staat durch einen nicht EU-/EWR Staatsangehörigen.
Eine Stundung der Steuer sollte aufgrund der Rechtsprechung auch unter der neuen Rechtslage für Wegzüge ab dem 1. Januar 2022 möglich sein – auch innerhalb der EU/EWR.
Nach Änderung des § 6 AStG durch das ATAD-Umsetzungsgesetz ist für Wegzüge ab dem 1. Januar 2022 eine Stundung der Wegzugsteuer unabhängig vom Zuzugsland nicht mehr möglich. Das Gesetz sieht vielmehr nur noch die Möglichkeit einer Ratenzahlung über bis zu 7 Jahre vor.
Auch wenn das Urteil des BFH nur den entschiedenen Fall betrifft, so sind dennoch die Urteilsgründe auch unter der neuen Rechtslage zu beachten. Denn nach Auffassung des BFH stellt auch die Möglichkeit der Ratenzahlung einen Verstoß gegen das FZA dar, da auch die Ratenzahlung zu einem Liquiditätsnachteil für den Wegziehenden im Vergleich zu einem Steuerpflichtigen führt, der im Inland verbleibt. Auch die Neuregelung dürfte damit nicht mit den europäischen Grundfreiheiten vereinbar sein, und zwar unabhängig davon, ob der Wegzug in die Schweiz oder ein EU/EWR-Land erfolgt. Dies sollte insbesondere vor dem Hintergrund gelten, dass das Schutzniveau der Grundfreiheiten innerhalb der EU/des EWR insgesamt höher ist als dasjenige des FZA mit der Schweiz.
Falls der Gesetzgeber oder die Finanzverwaltung diesbezüglich nicht durch eine Gesetzesänderung oder eine Stundung von Amts wegen Abhilfe schaffen, dürfte dies erneut die Gerichte beschäftigen.
Anwendung der Urteilsgründe auf weitere Wegzugsfälle?
Das Urteil betrifft konkret zwar nur das FZA mit der Schweiz – und damit Selbständige, die aufgrund dieser Tätigkeit aus dem Inland in die Schweiz wegziehen – jedoch sollten die Urteilsgründe auch auf andere Grundfreiheiten innerhalb der EU/des EWR, wie die Niederlassungsfreiheit übertragbar sein und damit nicht nur für wegziehende Selbständige gelten.
Löst der Wegzug nicht eine Wegzugsbesteuerung nach § 6 AStG, sondern eine Steuer aufgrund fiktiver Entnahme aus dem Betriebsvermögen aus (§ 4 Abs. 1 Satz 3 EStG), ist eine Stundung der Steuer ebenfalls nicht möglich. Vielmehr kommt in diesen Fällen nur eine Ratenzahlung über 5 Jahre in Betracht. Betroffen sind Fälle des Wegzugs des Gesellschafters einer gewerblich geprägten Personengesellschaft, in deren Vermögen sich eine Beteiligung an einer Kapitalgesellschaft befindet. Mangels abkommensrechtlicher Betriebsstätte der gewerblich geprägten Personengesellschaft kann es beim Wegzug zu einer fiktiven Entnahme der Beteiligung kommen. Auch in diesen Fällen sollten die Urteilsgründe relevant sein.
Das Urteil des BFH ist zu begrüßen, setzt es doch die Auffassung des EuGH zur Erhebung der Wegzugsteuer zutreffend um. Es erteilt der Auffassung des Gesetzgebers zum ATAD-Umsetzungsgesetz eine klare Absage, wonach eine Umsetzung des Urteils Wächtler nicht für erforderlich angesehen wurde.
Es bleibt abzuwarten, wie die Finanzverwaltung und insbesondere der Gesetzgeber auf die Rechtsprechung des BFH reagieren werden.