27. April 2022
geschlossene Lieferkette
Vergaberecht

Vergaberecht: Kriterium der „geschlossenen Lieferkette in der EU“ unzulässig

Das OLG Düsseldorf hat eine wichtige Grundsatzentscheidung zur Bevorzugung bestimmter Produktionsstaaten im Vergaberecht getroffen.

Im Fall des OLG Düsseldorf (Beschluss vom 1. Dezember 2021 – Verg 54/20) ging es um die Vergabe von Arzneimittelrabattverträgen nach § 130a Abs. 8 SGB V in einem europaweiten offenen Vergabeverfahren. Der Auftraggeber hatte darin bekanntgemacht, dass der Zuschlag nicht nur anhand des niedrigsten Preises, sondern auch anhand qualitativer, umweltbezogener und sozialer Aspekte in Gestalt von Wirtschaftlichkeitsboni erteilt werden sollte. Zu diesen Aspekten gehörte u.a. der Nachweis einer geschlossenen Lieferkette in der EU, in den Unterzeichnerstaaten des Übereinkommens über das öffentliche Beschaffungswesen (Government Procurement Agreement – GPA) oder in der Freihandelszone der EU. 

Gegen dieses Zuschlagskriterium wandte sich ein in Indien produzierender Bieter mit einer Rüge und einem Nachprüfungsantrag. Zur Begründung führte der Bieter aus, dass er und andere pharmazeutische Unternehmen, die nicht in der EU oder in einem der anderen genannten Staaten produzieren, durch das Kriterium der geschlossenen Lieferkette diskriminiert würden. Das Kriterium sei außerdem ungeeignet, die Versorgungssicherheit zu gewährleisten. Für die Versorgungssicherheit sei es unerheblich, ob in Neuseeland, Guatemala oder in einem anderen Staat, der weder das GPA-Übereinkommen unterzeichnet hat noch in der Freihandelszone der EU liegt (Drittstaat), produziert werde.

Sowohl die in der ersten Instanz zuständige Vergabekammer des Bundes als auch das in zweiter Instanz zuständige OLG Düsseldorf gaben dem Bieter recht.

Kriterium der geschlossenen Lieferkette verstößt gegen den Gleichheitsgrundsatz 

Das OLG Düsseldorf wies insbesondere darauf hin, dass das Kriterium der geschlossenen Lieferkette gegen den Gleichheitsgrundsatz gem. § 97 Abs. 2 GWB verstoße. Dieser Grundsatz lasse eine Ungleichbehandlung von Wirtschaftsteilnehmern nur ausnahmsweise zu, wenn dies aufgrund eines Gesetzes ausdrücklich geboten oder gestattet sei. Diese Voraussetzungen lägen hier nicht vor. 

Ein Recht zur Ungleichbehandlung von Bietern aufgrund ihres Produktionsstandorts ergebe sich insbesondere nicht aus Art. 25 Richtlinie 2014/24/EU (sog. Vergaberichtlinie). Diese Vorschrift sieht sinngemäß vor, dass öffentliche Auftraggeber auf Leistungen und Wirtschaftsteilnehmer aus den GPA-Unterzeichnerstaaten und aus der Freihandelszone der EU grds. keine ungünstigeren Bedingungen anwenden dürfen als auf Leistungen und Wirtschaftsteilnehmer aus der EU. Hieraus ergibt sich nach Auffassung des OLG Düsseldorf aber kein Recht auf Diskriminierung von Leistungen oder Wirtschaftsteilnehmern aus Drittstaaten. 

Ausdrückliche Rechtsgrundlage zur Ungleichbehandlung erforderlich

Ein solches Recht könne nur dann bestehen, wenn es im Gesetz ausdrücklich geregelt ist, z.B. wie in Art. 85 Abs. 2 Richtlinie 2014/25/EU (sog. Sektorenrichtlinie). Bei der Vergabe eines Lieferauftrags im Bereich der Wasser-, Energie- und Verkehrsversorgung (Sektorenbereich) darf ein Angebot demnach zurückgewiesen werden, wenn der gem. der Verordnung 952/213/EU (Verordnung zur Festlegung des Zollkodex der EU) bestimmte Anteil der Erzeugnisse mit Ursprung in Drittstaaten mehr als 50 % des Gesamtwerts der in dem Angebot enthaltenen Erzeugnisse beträgt.

Das OLG Düsseldorf schließt aus dieser im deutschen Recht in § 55 Abs. 1 S. 1 Sektorenverordnung (SektVO) umgesetzten Regelung, dass die Zurückweisung eines Angebots von Erzeugnissen oder eines Bieters aus einem Drittstaat generell unzulässig und nur aufgrund der ausdrücklichen Gestattung durch eine Rechtsvorschrift gestattet ist. Soweit und solange eine solche gesetzliche Normierung einer Zugangsbeschränkung nicht vorliegt, dürften öffentliche Auftraggeber Bieter aus Drittstaaten nicht allein aufgrund ihrer Herkunft oder der Herkunft ihrer Produkte ausschließen oder benachteiligen. Die hier relevante Verweigerung eines Wirtschaftlichkeitsbonus für Bieter aus diesen Staaten stelle eine solche Benachteiligung dar und sei daher unzulässig. 

Kein zulässiges Mittel zur Erreichung europäischer Umwelt- und Sozialstandards

Das OLG Düsseldorf sah in dem Lieferkettenkriterium auch kein zulässiges Mittel zur Erreichung europäischer Umwelt- und Sozialstandards. Zwar könnten bei der Ermittlung des wirtschaftlichsten Angebots gem. § 127 Abs. 1 S. 4 GWB und § 58 Abs. 2 VgV auch qualitative, umweltbezogene oder soziale Aspekte berücksichtigt werden. Öffentlichen Auftraggebern komme insoweit ein Bestimmungsrecht zu. Das Kriterium sei zur Erreichung vergleichbarer Umwelt- und Sozialstandards allerdings ungeeignet, da die durch das Lieferkettenkriterium privilegierte Staatengruppe gerade in Bezug auf Umwelt- und Sozialstandards derart heterogen sei, dass das Lieferkettenkriterium bezüglich dieser Standards kein zulässiges Zuschlagskriterium darstelle. 

Lieferkettenkriterium schafft keine Versorgungssicherheit

Das Lieferkettenkriterium sorgt nach Auffassung des OLG Düsseldorf ferner nicht dafür, dass eine höhere Versorgungssicherheit herrscht. Dies würde voraussetzen, dass in der EU, den GPA-Unterzeichnerstaaten und der Freihandelszone der EU die Versorgung mit den ausgeschriebenen Arzneimitteln in höherem Maße gewährleistet ist als bei einer Herstellung in typischen Drittstaaten, wie z.B. Indien oder China. Ein solcher verkehrstechnischer Vorteil liege jedoch nicht vor. Es sei insbesondere nicht ersichtlich, dass durch die Abkommen mit den GPA-Unterzeichnerstaaten und den Staaten der Freihandelszone der EU die Gefahr von exportbeschränkenden Maßnahmen sinkt. Dies gelte insbesondere bei Medizinprodukten, die i.d.R. von Exportverboten ausgenommen seien. 

Die Coronapandemie habe außerdem gezeigt, dass es bezüglich der Krisenfestigkeit keinen signifikanten Unterschied des Arzneimittelhandels zwischen den GPA-Unterzeichnerstaaten und den Staaten der Freihandelszone der EU einerseits und bedeutenden Arzneimittelerzeuger-Drittstaaten wie China und Indien andererseits gibt. Das Lieferkettenkriterium führe sogar im Gegenteil zu einer Gefährdung der Versorgungssicherheit, da die Gefahr bestehe, dass Beschränkungen ein und desselben GPA-Unterzeichnerstaates oder Staates der Freihandelszone der EU, bspw. des bedeutenden Wirkstoffproduzenten Taiwan, zum Ausfall aller Auftragnehmer führen könnte, wenn die Auftragnehmer jeweils diesen Staat in ihrer Lieferkette haben. 

Mildere Mittel vorrangig zu prüfen

Das OLG Düsseldorf zeigt zudem auf, dass es mildere Mittel zur Zielerreichung gegeben hätte. Nach Ansicht des Gerichts wäre es möglich gewesen, den Bietern etwa eine versorgungsortsnahe Lagerhaltung vorzugeben oder eine solche durch den Wirtschaftlichkeitsbonus zu privilegieren. Diese Möglichkeiten seien gegenüber dem Lieferkettenkriterium vorzuziehen gewesen. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ist demnach also auch bei der Festlegung von Zuschlagskriterien zu beachten.

Kein objektives Zuschlagskriterium

Das OLG Düsseldorf weist schließlich darauf hin, dass das Lieferkettenkriterium kein objektives Zuschlagskriterium i.S.d. § 127 Abs. 4 S. 1 GWB darstelle, da die Staatengruppe, die mit dem Kriterium privilegiert werde, heterogen sei und es daher keinen sachlichen Grund gebe, Bieter aus dieser Gruppe zu bevorzugen. Exemplarisch verweist das Gericht auf den GPA-Unterzeichnerstaat USA, der die Übereinkommen Nr. 87 und 98 der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) über die Vereinigungsfreiheit und das Recht zu Kollektivhandlungen nicht ratifiziert habe. Auch andere Unterzeichnerstaaten hätten gerade bezüglich Umwelt- und Arbeitsschutzstandards erhebliche Defizite. Das Zuschlagskriterium lasse eine willkürfreie Angebotswertung daher nicht zu. Ob das Lieferkettenkriterium dem Erfordernis der Auftragsbezogenheit entspricht, konnte das Gericht infolgedessen dahinstehen lassen. 

Bedeutung für zukünftige Vergaben

Da das OLG Düsseldorf eine Vielzahl von Gründen nennt, die gegen die Zulässigkeit des Lieferkettenkriteriums sprechen, ist öffentlichen Auftraggebern zur Vorsicht zu raten, wenn sie vergleichbare Kriterien aufstellen wollen. Soweit es keine gesetzliche Grundlage gibt, die eine Ungleichbehandlung aufgrund des Produktionsstandorts zulässt, sollte von einer Ungleichbehandlung abgesehen werden. Dies gilt sowohl für Festlegungen in der Leistungsbeschreibung, in Vertragsklauseln und Ausführungsbedingungen als auch für die Gestaltung von Eignungs- und Zuschlagskriterien. Teilnahmeanträge und Angebote von Unternehmen aus Drittstaaten sollten daher nicht bereits aufgrund der Herkunft des Bieters oder der Ware schlechter behandelt werden als Teilnahmeanträge oder Angebote aus der EU, der Freihandelszone der EU oder aus dem Kreis der GPA-Unterzeichnerstaaten. Eine Ausnahme gilt – wie ausgeführt – für Lieferaufträge im Sektorenbereich gem. § 55 SektVO. 

Liegt diese Ausnahme nicht vor, können sich Unternehmen dagegen auf die Entscheidung des OLG Düsseldorf berufen, wenn sie mit einer Rüge oder einem Nachprüfungsantrag gegen ein vergleichbares Kriterium vorgehen möchten. 

Die Thematik ist allerdings im Fluss und sollte weiter beobachtet werden. Im Trilog zwischen der Europäischen Kommission, dem Europäischen Parlament und dem Rat der Europäischen Union vom 14. März 2022 zum International Procurement Instrument (IPI) wurde vereinbart, dass die EU in die Lage versetzt werden soll, Maßnahmen bis hin zu einer Zugangsbeschränkung für Unternehmen aus Drittstaaten zu beschließen, wenn diese Staaten EU-Unternehmen bei öffentlichen Aufträgen Beschränkungen auferlegen. Vor diesem Hintergrund erscheint es durchaus möglich, dass es bereits in naher Zukunft eine gesetzliche Regelung geben wird, die unter bestimmten Voraussetzungen eine Bevorzugung von EU-Unternehmen legitimiert.

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