Müssen freigestellte Arbeitnehmer während der Dauer der Kündigungsfrist aktiv nach Arbeit suchen, um ihre Vergütung zu sichern?
Freistellungen sind ein gängiges Mittel in Kündigungs- und Aufhebungsverfahren. Doch sie werfen juristisch knifflige Fragen auf, insbesondere beim sogenannten „böswilligen Unterlassen anderweitigen Erwerbs“. Das BAG hat in diesem Kontext jüngst ein spannendes Urteil gefällt (BAG, Urteil v. 12. Februar 2025 – 5 AZR 127/24).
Der juristische Hintergrund
Um die BAG-Entscheidung vollumfänglich verstehen zu können, muss man zunächst Folgendes wissen: In der Praxis stellen Arbeitgeber[1] gekündigte Mitarbeiter häufig bereits während der Dauer der Kündigungsfrist bezahlt von der Arbeit frei. Das ist nicht ganz unproblematisch, denn der Arbeitnehmer hat einen grundsätzlichen Beschäftigungsanspruch – auch während der Kündigungsfrist. Von daher gestattet die Rechtsprechung solche Freistellungen eigentlich nur, wenn der Arbeitgeber ein berechtigtes Interesse daran hat, etwa weil Schäden oder Störungen drohen oder weil nur so Geschäftsgeheimnisse geschützt werden können. Die Praxis setzt sich über solche Regeln aber häufig hinweg. Soweit der Arbeitnehmer sein Gehalt dann weiter bezieht und dafür nicht arbeiten muss, wird es selten zu Unstimmigkeiten kommen. Der Streit entzündet sich aber ganz schnell dann, wenn der Arbeitgeber von seinem Mitarbeiter verlangt, sich zügig um einen anderen Job zu bemühen, um weitere Gehaltszahlungen entbehrlich zu machen. Juristischer Dreh- und Angelpunkt dieses Konstrukts ist § 615 BGB: Dieser bestimmt zunächst in Satz 1, dass der Arbeitgeber eine Vergütungspflicht hat, wenn er die Arbeitsleistung des Arbeitnehmers nicht annimmt (Annahmeverzug). Diese Situation besteht während der oben beschriebenen Freistellung des Arbeitnehmers in der Kündigungsfrist bzw. während eines Kündigungsschutzverfahrens nach Ablaufen der Kündigungsfrist, wenn der Arbeitnehmer mit der Kündigungsschutzklage obsiegt. Gleichzeitig verpflichtet § 615 S. 2 BGB den Arbeitnehmer, sich anderweitige Einkünfte oder potenziellen Verdienst anrechnen zu lassen, wenn er böswillig darauf verzichtet, eine neue Arbeit anzunehmen. Die Frage, wann der Arbeitnehmer „böswillig“ handelt, beschäftigt die Gerichte immer wieder, insbesondere wenn es um die Anforderungen an die Bemühungen des Arbeitnehmers zur Arbeitsaufnahme geht. Nach der ständigen Rechtsprechung des BAG kann von einem böswilligen Unterlassen nur ausgegangen werden, wenn dem Arbeitnehmer ein Vorwurf daraus gemacht werden kann, dass er während des Annahmeverzugs trotz Kenntnis aller objektiven Umstände vorsätzlich untätig bleibt und eine ihm nach Treu und Glauben (§ 242 BGB) zumutbare anderweitige Arbeit nicht aufnimmt oder die Aufnahme der Arbeit bewusst verhindert. Erforderlich für die Beurteilung der Böswilligkeit ist stets eine unter Bewertung aller Umstände des konkreten Falls vorzunehmende Gesamtabwägung der beiderseitigen Interessen (vgl. BAG, Urteil v. 23. Februar 2021 – 5 AZR 213/20 m.w.N.).
Dass Arbeitgeber ihren gekündigten Mitarbeitern während der Dauer eines laufenden und ggf. langwierigen Kündigungsschutzverfahrens Jobangebote zusenden können, um sich dann auf böswilliges Unterlassen anderweitigen Erwerbs während eines Annahmeverzugs berufen zu können (§ 615 S. 2 BGB), setzt sich in der Rechtsprechung immer weiter durch, siehe etwa hier (Blog CMS) und hier (Blog CMS). In dem vom BAG jüngst entschiedenen Fall forderte der Arbeitgeber aber bereits während der Kündigungsfrist Bewerbungsbemühungen vom Arbeitnehmer ein.
Der Fall: Freigestellter Arbeitnehmer verweigert während der Kündigungsfrist die Annahme einer neuen Stelle
Der BAG-Entscheidung lag zunächst ein ganz typischer Kündigungssachverhalt zugrunde:
Ein Arbeitgeber hatte das Arbeitsverhältnis mit einem Mitarbeiter mit Schreiben vom 29. März 2023 ordentlich zum 30. Juni 2023 gekündigt und stellte den Mann – unter Einbringung des restlichen Urlaubs – unwiderruflich von der Pflicht zur Erbringung der Arbeitsleistung frei. In der Kündigung heißt es weiter: „Ihren noch bestehenden Urlaub im Umfang von 11 Urlaubstagen gewähren wir Ihnen zu Beginn der unwiderruflichen Freistellung ab dem 3. April 2023. Anderweitige Einkünfte, die Sie im Freistellungszeitraum nach der Abgeltung etwaiger Urlaubs- und Freizeitausgleichsansprüche erzielen, werden gemäß § 615 S. 2 BGB auf Ihre laufenden Vergütungsansprüche angerechnet.“ Der Arbeitnehmer erhob Kündigungsschutzklage. Das Arbeitsgericht gab dieser am 29. Juni 2023 statt, die vom Arbeitgeber eingelegte Berufung wurde vom Landesarbeitsgericht Baden-Württemberg (Urteil v. 3. Mai 2024 – 9 Sa 4/24) zurückgewiesen.
Spannend wird es jetzt: Der Arbeitgeber hatte im Laufe der Monate Mai und Juni 2023 seinem Mitarbeiter, der sich Anfang April 2023 bei der Agentur für Arbeit arbeitssuchend gemeldet hatte, insgesamt 43 für ihn mutmaßlich geeignete Stellenangebote zugesendet. Auf sieben davon bewarb sich der der Beschäftigte, jedoch erstmalig am 28. Juni 2023, also einen Tag vor der erstinstanzlichen Entscheidung. Der Arbeitgeber zahlte dem Mitarbeiter für Juni 2023, also den letzten Monat des gekündigten, aber noch bestehenden Arbeitsverhältnisses, keine Vergütung mehr, weil er es in einer Annahmeverzugssituation böswillig unterlassen habe, sich um einen anderweitigen Erwerb zu kümmern. Nach § 615 S. 2 BGB müsse er sich dies anrechnen lassen.
Damit war der Arbeitnehmer gar nicht einverstanden. Er monierte, dass er nicht gehalten sei, während seiner Kündigungsfrist ein anderweitiges Dauerarbeitsverhältnis bei einem anderen Arbeitgeber einzugehen. Während der Kündigungsfrist würde durch eine neue Beschäftigung u.U. eine Konkurrenzsituation zwischen altem und neuem Arbeitgeber geschaffen. Zudem könne bei einer Bewerbung im Mai 2023 nicht von einer Einstellung zum 1. Juni 2023 ausgegangen werden.
Die Entscheidung des BAG: Der Beschäftigungsanspruch des Arbeitnehmers steht einem böswilligen Unterlassen anderweitigen Erwerbs während der Kündigungsfrist im Zweifel entgegen
Das BAG ist im Ergebnis der Vorinstanz, dem LAG Baden-Württemberg, gefolgt. Es hat den Annahmeverzug des Arbeitgebers während der Kündigungsfrist bejaht und von daher auch den Anspruch auf die vereinbarte Vergütung für diesen Zeitraum. Nicht erzielten anderweitigen Verdienst habe sich der Arbeitnehmer nicht nach § 615 S. 2 BGB anrechnen lassen müssen.
Zunächst warf das BAG die Frage auf, ob § 615 S. 2 Alt. 3 BGB nicht ohnehin vertraglich abbedungen worden sei. Dies hätte zur Folge, dass allein deswegen eine Anrechnung böswillig unterlassenen anderweitigen Erwerbs nicht möglich sei. Denn im Arbeitsvertrag des Arbeitnehmers hieß es lediglich, dass „der/die Mitarbeiter/in einen in der Zeit der Freistellung durch Verwendung seiner/ihrer Arbeitskraft erzielten Verdienst auf den Vergütungsanspruch gegenüber der Firma anrechnen lassen“ müsse. Entsprechend war auch das Kündigungsschreiben formuliert. Von einer Anrechnung böswillig unterlassenen anderweitigen Verdienstes sei mithin weder im Arbeitsvertrag noch im Kündigungsschreiben die Rede gewesen.
Letztlich ließ das BAG diese Frage jedoch offen, weil schon die Voraussetzungen des § 615 S. 2 S. 3 BGB nicht gegeben waren. Nach Auffassung der Richter handelte der Mitarbeiter nämlich nicht „böswillig“. § 615 Satz 2 Alt. 3 BGB enthalte eine Billigkeitsregelung. Dies bedeute, dass der Arbeitnehmer nur böswillig handele, wenn er wider Treu und Glauben (§ 242 BGB) untätig bleibe. Der Umfang der Obliegenheit des Arbeitnehmers zu anderweitigem Erwerb dürfe billigerweise nicht losgelöst von den Pflichten des Arbeitgebers beurteilt werden. Den Arbeitgeber treffe – wie oben ausgeführt – grundsätzlich auch während der Kündigungsfrist eine Beschäftigungspflicht. Verletze er diese durch eine einseitige Freistellung des Arbeitnehmers und gerate dadurch in Annahmeverzug, sei es mit den Grundsätzen von Treu und Glauben nicht zu vereinbaren, vom Arbeitnehmer die Aufnahme einer anderweitigen Arbeit schon während des noch bestehenden Arbeitsverhältnisses zu verlangen. Denn so zwinge man den Mitarbeiter letztlich, dem Arbeitgeber auch noch zu einer Befreiung von seiner Vergütungspflicht zu verhelfen. § 242 BGB verlange vom Arbeitnehmer im (noch) bestehenden Arbeitsverhältnis aber nicht, den vertragsuntreuen Arbeitgeber finanziell zu entlasten. Insoweit unterscheide sich die Rechtslage vor Ablauf der Kündigungsfrist von derjenigen in der Zeit danach.
Dem Arbeitgeber ist hier also vor die Füße gefallen, dass auch der gekündigte Mitarbeiter einen grundsätzlichen Beschäftigungsanspruch hat, der ihm nicht ohne guten Grund entzogen werden darf. Deswegen hatte er bei der Billigkeitsprüfung im Rahmen des § 615 S. 2 BGB das Nachsehen.
Außerdem hielt das BAG dem Arbeitgeber entgegen, dass er nicht durch eine ausdrückliche Erklärung auf das vertragliche Wettbewerbsverbot nach § 60 HGB verzichtet habe. Der Senat änderte an dieser Stelle ausdrücklich seine bisherige Rechtsprechung, nach der der Arbeitnehmer bei einer unwiderruflichen Freistellung unter Anrechnung anderweitigen Verdienstes davon ausgehen durfte, nicht mehr an vertragliche Wettbewerbsverbote gebunden zu sein.
Ganz nebenbei zweifelte das BAG an, ob der Arbeitgeber seine Einwendungen nach § 615 S. 2 Alt. 3 BGB ausreichend substantiiert habe. Zweifelhaft sei dies deswegen, weil er keinen Sachvortrag dazu geleistet habe, dass der Mitarbeiter eine dieser Stellen im Juni 2023 – und noch dazu rückwirkend zum Monatsanfang – hätte erhalten können. Außerdem zeige der Arbeitgeber zu allen Stellenangeboten nicht auf, wann welche Stelle in den betreffenden Portalen online gestellt wurde und ob sie zum Zeitpunkt der jeweiligen Übermittlung an den Mitarbeiter überhaupt noch zu besetzen war. Schließlich fehle es an jeglichem Sachvortrag, bei welcher Stelle welcher Verdienst zu erzielen gewesen wäre. Für die vom Arbeitgeber geforderte Schätzung nach § 287 Abs. 2 ZPO fehlt es damit an den erforderlichen Anknüpfungstatsachen.
Auswirkung der Entscheidung auf künftige Kündigungen mit Freistellung
Für Arbeitgeber hat die Entscheidung in mehrfacher Hinsicht große Relevanz.
Zunächst müssen Arbeitgeber bei der Gestaltung des Arbeitsvertrags Vorsicht walten lassen, wenn sie bei einer Freistellung anderweitigen Verdienst bei allen drei „Fallgruppen“ von § 615 S. 2 BGB anrechnen möchten. Dies muss in aller Deutlichkeit zum Ausdruck gebracht werden.
Bei einer Freistellung während der Dauer der Kündigungsfrist gilt:
- Auch bei der Formulierung einer Freistellung – sei es bei Kündigungen oder in Aufhebungs- und Abwicklungsverträgen, sollte in jedem Einzelfall überlegt werden, ob die Einhaltung des Wettbewerbsverbots oder die (theoretische) Möglichkeit der Anrechnung anderweitig erzielten oder böswilligen Erwerbs vordringlicher ist.
- Da die Anrechnung böswillig unterlassenen anderweitigen Erwerbs während der Dauer der Kündigungsfrist nach dieser Entscheidung nur noch in sehr seltenen Fällen denkbar sein wird, sollten Arbeitgeber sorgfältig prüfen, ob eine Freistellung des Mitarbeiters tatsächlich angebracht ist – oder ob es nicht günstiger ist, den Mitarbeiter, dessen Gehalt grundsätzlich zu zahlen ist, auch zu beschäftigen. Dies gilt umso mehr, als dass Mitarbeiter nach diesem Urteil wenig Impetus haben werden, bereits während der Kündigungsfrist eine neue Beschäftigung zu suchen.
- Wenn sich ein Arbeitgeber dafür entscheidet freizustellen und seinem Mitarbeiter Stellenangebote zu unterbreiten, muss er seinen Substantiierungspflichten nachkommen. In der Praxis dürfte sich vor allem die vom BAG geforderte Verdienstschätzung bei den Stellenausschreibungen als problematisch erweisen. Denn die üblichen Jobportale geben solche Zahlen in aller Regel nicht her.
Bei einer Freistellung nach Ablauf der Kündigungsfrist, während eines laufenden Kündigungsschutzverfahrens gilt:
- Ab dem ersten Tag nach Ablauf der Kündigungsfrist sollte der Arbeitgeber aber gewappnet sein und seine Ex-Mitarbeiter mit Jobangeboten versorgen können, denn ab dann ist die Anrechnung anderweitigen (fiktiven) Verdiensts wieder möglich.
- Soweit Arbeitgeber zuvor nicht auf die Einhaltung des vertraglichen Wettbewerbsverbots verzichtet haben, sollte dies nun vorsorglich nachgeholt werden.
- Auch nach Ablauf der Kündigungsfrist dürften die Aussagen des BAG zu Substantiierungspflichten gelten.
* Gemeint sind Personen jeder Geschlechtsidentität. Um der leichteren Lesbarkeit willen wird im Beitrag die grammatikalisch männliche Form verwendet.