11. Mai 2021
Arbeitszeiterfassung System
Arbeitsrecht

Arbeitszeiterfassung – was gilt nach dem EuGH-Urteil aus Mai 2019?

Update aus Niedersachsen zur Arbeitszeiterfassung nach dem Urteil des EuGH aus Mai 2019.

Im Mai 2019 hat der EuGH eine Entscheidung getroffen, die den Arbeitsalltag bei vielen Arbeitgebern verändern dürfte. Daher erwarten die Unternehmen mit Spannung, wie der Gesetzgeber das Urteil in Deutschland umsetzen wird und was sich dadurch für sie und ihre Beschäftigten ändert. 

Denn mit seinem Urteil vom 14. Mai 2019 (Az. C-55/18 – CCOO) hat der EuGH entschieden, dass die Arbeitszeiterfassung in den Mitgliedsstaaten der EU durch ein objektives, verlässliches und zugängliches System erfolgen muss. Nur so könnten die Rechte aus Art. 3, 5 und 6 der Arbeitszeitrichtlinie (2003/88/EG) entsprechend umgesetzt werden. Die bloße Dokumentation von Überstunden würde dem nicht gerecht.

Folglich dürften auch die derzeit in Deutschland bestehenden Dokumentationspflichten nach § 16 Abs. 2 ArbZG (sowie weiterer „Nebengesetze“ wie dem AÜG oder dem MiLoG) nicht ausreichen. Der deutsche Gesetzgeber ist in der Pflicht, die Rechtsprechung des EuGH in nationales Recht umzusetzen.

Klappe, die Erste: ArbG Emden geht von unmittelbarer Wirkung der Entscheidung des EuGH

Das ArbG Emden hatte sich als erstes Gericht in Deutschland mit dem Urteil des EuGH auseinandergesetzt. Und das zweimal. 

Das ArbG Emden bejahte in seiner ersten Entscheidung vom 20. Februar 2020 (Az. 2 Ca 94/14) eine unmittelbare Auswirkung des Urteils des EuGH auf die Arbeitgeber in Deutschland. Sofern ein Mitarbeiter* die Vergütung von Überstunden geltend mache und einklage, könne der Arbeitgeber seiner sog. sekundären Beweislast nur entsprechen, wenn er seiner sich aus Art. 31 Abs. 2 der Grundrechtecharta ergebenden Pflicht zur Einrichtung eines objektiven, verlässlichen und zugänglichen Systems nachgekommen sei. Der Arbeitgeber könne die seitens des Mitarbeiters geltend gemachten und dargelegten Überstunden nur dann widerlegen, wenn er ein System zur Arbeitszeiterfassung vorhalte, das den Vorgaben und Anforderungen des EuGH entspreche. 

Mit der im Schrifttum überwiegend vertretenen Ansicht, dass sich aus dem Urteil des EuGH gegenwärtig noch keine unmittelbaren Pflichten (und damit bei einer Nicht-Umsetzung auch noch keine unmittelbaren Nachteile, z.B. im Hinblick auf die Darlegungs- und Beweislast) ergäben, hat sich das ArbG Emden nicht auseinander gesetzt. Das Urteil ist mittlerweile rechtskräftig. 

Klappe, die Zweite: ArbG Emden hält an seiner Ansicht zur Arbeitszeiterfassung fest

Am 24. September 2020 (Az. 2 Ca 144/20) hat dieselbe Kammer des ArbG Emden nun erneut ein Urteil auf Basis der Entscheidung des EuGH aus Mai 2019 gefällt. Auch diese Entscheidung überrascht. 

Die Klägerin verlangte vorliegend die Auszahlung von Überstunden im Umfang von ca. EUR 20.000, nachdem sie das Arbeitsverhältnis gekündigt hatte. Sie hatte über das System des Arbeitgebers 1.001 Stunden und 9 Minuten erfasst und machte hierfür die entsprechende Vergütung geltend. Im Betrieb des Arbeitgebers galt Vertrauensarbeitszeit.

Das ArbG Emden ging insofern erneut davon aus, dass die Darlegungs- und Beweislast des Arbeitgebers im Vergütungsprozess durch das Urteil des EuGH bereits gegenwärtig modifiziert sei. Denn anders als vom BAG vertreten sei für die Duldung von Überstunden durch den Arbeitgeber keine positive Kenntnis (mehr) erforderlich. Es würde – aufgrund des Urteils des EuGH – vielmehr reichen, wenn der Arbeitgeber die Möglichkeit habe, über das von ihm zwingend einzuführende objektive, verlässliche und zugängliche System Einsicht in die Arbeitszeiterfassung zu nehmen. 

ArbG Emden bekräftigt Unternehmenspflicht zur Umsetzung der Anforderungen an Arbeitszeiterfassungssystem

Im Ergebnis blieb die 2. Kammer des ArbG Emden mithin dabei, dass bereits gegenwärtig eine Pflicht der Unternehmen besteht, die durch den EuGH gesetzten Anforderungen an das Arbeitszeiterfassungssystem umzusetzen. Die Begründung ist jedoch eine andere als im Februar.

Im Frühjahr hatte das Gericht seine Ansicht noch damit begründet, dass eine unmittelbare Verpflichtung aus Art. 31 Abs. 2 der Grundrechtecharta folge. In seiner zweiten Entscheidung führt das Gericht hingegen aus, die Frage der unmittelbaren Drittwirkung von Art. 31 Abs. 2 der Grundrechtecharta sei lediglich „akademischer Natur“. An dem Ergebnis hält das ArbG Emden dennoch fest, begründet dieses nun damit, dass die Pflicht zur Arbeitszeiterfassung aus § 618 Abs. 1 BGB erwachse. Danach hat 

der Dienstberechtigte […] Gerätschaften, die er zur Verrichtung der Dienste zu beschaffen hat, so einzurichten und zu unterhalten […], dass der Verpflichtete gegen Gefahr für Leben und Gesundheit soweit geschützt ist, als die Natur der Dienstleistung es gestattet.

Aus dieser Norm in Verbindung mit § 241 Abs. 2 BGB (vertragliche Nebenpflichten) leitet das ArbG Emden nun ab, dass Arbeitgeber bereits gegenwärtig verpflichtet seien, eine Zeiterfassungssystem vorzuhalten, das den Anforderungen des EuGH genüge. Mangelnde Umsetzung wirke sich zu Lasten der Arbeitgeber im Vergütungsprozess aus. 

Klappe, die Dritte

Das LAG Niedersachsen (LAG Niedersachsen, Urteil v. 6. Mai 2021 – 5 Sa 1292/20) hat unter Abänderung eines dritten (Teil-)Urteils des ArbG Emden (ArbG Emden, Teilurteil v. 9. November 2020 – 2 Ca 399/18) die Ansicht vertreten, das Urteil des EuGH vom 14. Mai 2019 – C 55/18 habe keine Aussagekraft für die Darlegungs- und Beweislast im Überstundenprozess. 

Unter Fortsetzung seiner Rechtsprechung auf Basis des EuGH-Urteils hatte das ArbG Emden erneuet angenommen, der beklagte Arbeitgeber sei in europarechtskonformer Auslegung des § 618 BGB zur Erfassung und Kontrolle der Arbeitszeiten des Klägers verpflichtet gewesen. Da der Arbeitgeber dieser Verpflichtung nicht nachgekommen sei, konnte er die vorgelegten Indizien nicht entkräften.

Diese Auffassung teilte die 5. Kammer des Landesarbeitsgerichts nicht. Dem EuGH käme keine Kompetenz zur Entscheidung über Fragen der Vergütung zu. Dies ergebe sich aus Art. 153 AEUV. Eine sekundäre Beweislast, der nur durch Einrichtung eines entsprechenden Zeiterfassung-Systems entsprochen werden kann, sei daher ausgeschlossen. Das LAG Niedersachsen entschied dementsprechend, dass der Kläger die Voraussetzungen seines Anspruchs auf Überstundenvergütung nicht dargelegt habe.

Auch das LAG Rheinland-Pfalz (LAG Rheinland-Pfalz, Urteil v. 19. Februar 2021 – 8 Sa 169/20) lehnt die Rechtsprechung des ArbG Emden explizit ab. Die europarechtlich begründeten Dokumentationspflichten dienten allein der – öffentlich-rechtlichen – Überwachung des Gesundheitsschutzes der Arbeitnehmer. Einem Beschäftigten sei in Hinblick auf den Schutz seiner Gesundheit aber nicht geholfen, wenn er mit einer Überstundenvergütungsklage obsiege. Außerdem erlaube die Argumentation des ArbG Emden, den Arbeitgeber auch bei Verletzung sonstiger Nebenpflichten mit prozessualen Nachteilen im Vergütungsrechtsstreit zu sanktionieren, um ihn zu mehr Gesetzestreue im Allgemeinen anzuhalten. Das sei jedoch sachfremd und daher unzulässig.

Und es bleibt spannend: Die Revision zum Bundesarbeitsgericht durch das LAG Niedersachsen wurde zugelassen und ist bei dem obersten deutschen Arbeitsgericht anhängig (Az. 5 AZR 359/21)!

Arbeitgeber sollten Zeiterfassungssysteme schon heute überprüfen

Auch wenn die zwei leicht abenteuerlich anmutenden Entscheidungen aus Emden bislang für sich stehen und die überwiegende Ansicht in der Literatur und den höherinstanzlichen Gerichten davon ausgeht, dass derzeit noch keine Pflicht der Arbeitgeber zur Umsetzung des EuGH-Urteils besteht, sollten die Unternehmen bereits gegenwärtig prüfen, ob ihre Zeiterfassungssystem den Anforderungen des EuGH genügen und hier ggf. nachrüsten. Ansonsten drohen zumindest „mittelbare″ Nachteile mit Blick auf die Darlegungs- und Beweislast bei einer geltend gemachten Überstundenvergütung. 

Das Urteil des EuGH lässt dabei leider keinen belastbaren Rückschluss zu, wie genau die Systeme ausgestaltet werden müssen und welche Parameter zukünftig zu erfassen sind. Es dürfte davon auszugehen sein, dass nach der Umsetzung des Urteils durch den Gesetzgeber mindestens Beginn und Ende der täglichen Arbeitszeit, die wöchentliche Arbeitszeit und deren Verteilung auf die Wochentage sowie die Pausen erfasst werden können.

*Gemeint sind Beschäftigte jeder Geschlechtsidentität. Lediglich der leichteren Lesbarkeit halber wird künftig bei allen Bezeichnungen nur noch die grammatikalisch männliche Form verwendet.

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