29. November 2022
§ 19 Abs. 2 AÜG europarechtswidrig Gemeinschaftsbetrieb
Arbeitsrecht

BAG: § 19 Abs. 2 AÜG europarechtswidrig, aber anwendbar

BAG bestätigt, dass sich Gemeinschaftsbetrieb und Arbeitnehmerüberlassung ausschließen und, dass § 19 Abs. 2 AÜG trotz Europarechtswidrigkeit anwendbar ist.

Das BAG hat mit Urteil vom 24. Mai 2022 (Az. 9 AZR 337/21) klargestellt, dass die Beschäftigung eines Mitarbeiters* in einem Gemeinschaftsbetrieb zweier Unternehmen eine Arbeitnehmerüberlassung i.S.d. § 1 Abs. 1 AÜG ausschließt und – quasi im Vorbeigehen – dass die Übergangsvorschrift des § 19 Abs. 2 AÜG zwar europarechtswidrig, aber dennoch anwendbar ist.

Zunächst: Abgrenzung von Arbeitnehmerüberlassung und Gemeinschaftsbetrieb

Die zentrale Feststellung des BAG, dass eine Arbeitnehmerüberlassung in einem Gemeinschaftsbetrieb nicht möglich sei, sondern dass sich diese beiden „Gestaltungsformen“ des unternehmensübergreifenden Personaleinsatzes ausschließen, bestätigen die bisherige Rechtsprechung (vgl. BAG, Urteil v. 25. Oktober 2000 – 7 AZR 487/99; LAG Hessen, Urteil v. 15. Januar 2021 – 3 Sa 1108/19) und die herrschende Meinung in der Literatur (vgl. Schüren/Hamann, AÜG, § 1 Rn. 87; ErfK/Roloff, § 1 AÜG Rn. 35). Eine Überlassung zur Arbeitsleistung i.S.d. § 1 Abs. 1 S. 2 AÜG liegt nicht vor, wenn der Arbeitnehmer in einem Gemeinschaftsbetrieb beschäftigt wird, zu dessen gemeinsamer Führung sich sein Arbeitgeber und ein Dritter rechtlich verbunden haben. Das BAG stellt zutreffend fest:

Verfolgen mehrere Unternehmen als Gemeinschaftsbetrieb arbeitsteilig in einer gemeinsamen Betriebsstätte bestimmte arbeitstechnische Zwecke, ohne dass die Beteiligten in ihrer Verbundenheit am Rechtsverkehr teilnehmen, kann es schon begrifflich nicht zur Arbeitnehmerüberlassung kommen.

Entscheidend ist also, dass der Vertragsarbeitgeber eigene Betriebszwecke (u.a. mit der Personalgestellung) in dem Gemeinschaftsbetrieb verfolgt. Sofern dies auch noch in einer gemeinsamen Betriebsstätte geschieht, ist eine Arbeitnehmerüberlassung praktisch ausgeschlossen: Der Betrieb, in dem der Vertragsarbeitgeber seine Arbeitnehmer eingliedert, ist eben auch „sein“ Betrieb – und kein fremder Betrieb, in den er seine Arbeitnehmer schlichtweg überlässt. In dieser Konstellation begründen auch ein fachliches Weisungsrecht des Dritten und die Zusammenarbeit der beiden Mitarbeitergruppen keine Arbeitnehmerüberlassung i.S.d. AÜG.

Kommt es zu einem Streit, ob tatsächlich die Voraussetzungen des Gemeinschaftsbetriebs vorliegen, müssen diese aber auch ermittelt werden. Dafür erforderlich ist nach ständiger Rechtsprechung (vgl. BAG, Urteil v. 20. Mai 2021 – 2 AZR 560/20), dass

die in einer Betriebsstätte vorhandenen materiellen und immateriellen Betriebsmittel mehrerer Unternehmen zu arbeitstechnischen Zwecken zusammengefasst, geordnet und gezielt eingesetzt werden und der Einsatz der menschlichen Arbeitskraft von einem einheitlichen Leitungsapparat betriebsbezogen gesteuert wird.

Notwendig ist, dass sich die beteiligten Unternehmen zumindest stillschweigend zu einer gemeinsamen Führung rechtlich verbunden haben, sodass der Kern der Arbeitgeberfunktionen im sozialen und personellen Bereich von derselben institutionellen Leitung ausgeübt wird (= Betriebsführungsvereinbarung).

Eine Betriebsführungsvereinbarung ist für den Gemeinschaftsbetrieb also konstituierend. Doch die bloß formelle Situation ist nicht allentscheidend. Es kommt weniger darauf an, was auf dem Papier steht, sondern vielmehr – wie immer im Arbeitsrecht –auf die tatsächliche Praxis, also das „Doing“. Und die tatsächlichen Umstände sieht das BAG in der aktuellen Entscheidung im bisherigen Verfahrensverlauf als nicht ausermittelt an. Dies erstaunt vor dem Hintergrund des wohlbegründeten Urteils des LAG Hessen (Urteil v. 15. Januar 2021 – 3 Sa 1108/19), das sich nun nochmals mit der Sache befassen muss. 

Zu den zu berücksichtigenden tatsächlichen Umständen zählen laut BAG auch die Betriebsratsstrukturen, weil für einen Gemeinschaftsbetrieb nach der Vorstellung des Gesetzes in § 1 Abs. 1 S. 2 BetrVG die Errichtung eines gemeinsamen Betriebsrats kennzeichnend sei.

Existieren in einem Betrieb – wie im streitgegenständlichen Fall – auf Grundlage von § 3 BetrVG zwei Betriebsräte, könne dies – so das BAG – einen Hinweis darauf geben, dass die im Betrieb beschäftigten Arbeitnehmer tatsächlich einer nach Vertragsarbeitgebern getrennten und gerade keiner für einen Gemeinschaftsbetrieb erforderlichen einheitlichen Personalführung unterlägen. Das Prinzip „Ein Betrieb, ein Betriebsrat“ (das indes durch die Möglichkeit der betriebsverfassungsrechtlichen Trennung eines Gemeinschaftsbetriebs nach § 3 Abs. 1 Nr. 3, Abs. 5 BetrVG durchbrochen ist) beruhe auf der Erwägung, dass der einheitlichen Leitung auf Arbeitgeberseite ein einheitliches Gremium der Belegschaft gegenüberstehe. Das BAG folgt in diesem Zusammenhang einem sehr tradierten Verständnis des Betriebsbegriffs; die Erwägungen, die dagegen anzuführen sind, dürften in dem in zweiter Instanz fortzusetzenden Verfahren vertiefend aufgegriffen und erörtert werden.

Dies ist im Ausgangspunkt zwar nachvollziehbar; durchaus fragwürdig ist allerdings die Argumentation, die einheitliche Leitung sei ggf. anzuzweifeln, weil die Existenz mehrerer Betriebsräte „unterschiedliche betriebliche Regelungen“ erlaube. Das BAG begründet dies in der der aktuellen Entscheidung wie folgt (Rn. 65):

Führt die Mehrzahl von Betriebsräten dazu, dass unterschiedliche betriebliche Regelungen […] entstehen, ist dies ein wesentliches Indiz dafür, dass die Personalführung lediglich der Form, nicht aber dem Inhalt nach einheitlich erfolgt.

Natürlich können mehrere Betriebsräte unterschiedliche Regelungen, z.B. Betriebsvereinbarungen, innerhalb ihrer Zuständigkeit aushandeln bzw. abschließen. Aus unterschiedlichen betrieblichen Regelungen einen Rückschluss auf die Einheitlichkeit der Betriebsleitung in personellen und sozialen Angelegenheiten zu folgern, die ja konstituierend für den (Gemeinschafts-)‌Betrieb ist, überzeugt aber nicht: Auch in einem „normalen“ Betrieb gibt es regelmäßig verschiedene Betriebsvereinbarungen zu ein und demselben Regelungsgegenstand, etwa zur Arbeitszeit in verschiedenen Produktionsbereichen, zur Vergütung in Verwaltung und Produktion, abweichende Bestimmungen zu Überstunden für die Logistik etc. Diese erfassen dann nur einen bestimmten Bereich, Betriebsteil oder eine bestimmte Personengruppe. Schon kraft des Sachzusammenhangs sind die Regelungen unterschiedlich, ohne dass man darüber nachdächte, allein deswegen mehrere Betriebe zu konstruieren. Kurzum: Ein Erfahrungswert, dass unterschiedliche Regelungen auf eine unterschiedliche Leitungsmacht zurückgehen, existiert nicht. 

Allerdings kann auch Entwarnung gegeben werden: Richtigerweise – so auch das BAG (vgl. Rn. 66) – schließt es sich gerade nicht grds. aus, wenn innerhalb eines Gemeinschaftsbetriebs mehrere Betriebsräte gebildet und gewählt wurden: 

Die Existenz zweier Betriebsräte steht andererseits der Annahme, es handele sich bei dem von den beteiligten Unternehmen errichteten Betrieb um einen Gemeinschaftsbetrieb, nicht zwingend entgegen.

Überzeugend ist wiederum die Ablehnung der Argumentation des Klägers durch das BAG, dass es – sinngemäß – nach der klägerseits vertretenen Ansicht rechtsmissbräuchlich sei, einen Gemeinschaftsbetrieb zu bilden, wenn zuvor eine Arbeitnehmerüberlassung stattgefunden habe. Dem erteilt das Gericht eine klare Absage. Es sei nicht zu beanstanden, eine unternehmerische Kooperation mit den Mitteln des BetrVG, hier also einen Gemeinschaftsbetrieb, sicherzustellen. Das ändere sich auch nicht dadurch, dass die beiden kooperierenden Unternehmen zuvor ihr Personal im Wege der Arbeitnehmerüberlassung eingesetzt hätten. Letztlich wäre es doch sachwidrig, Unternehmen zu verwehren, ihre Kooperation auf eine im Vergleich zur Arbeitnehmerüberlassung abweichende, aber unzweifelhaft rechtskonforme und rechtssichere Grundlage bzw. Gestaltungsform zu stellen.

Zudem: § 19 Abs. 2 AÜG ist europarechtswidrig, aber dennoch anwendbar!

Zudem klärt das BAG mit Blick auf die Arbeitnehmerüberlassung eine für die Praxis wesentliche Frage, nämlich zur Übergangsregelung nach § 19 Abs. 2 AÜG. Danach werden nur Zeiten des Einsatzes als Zeitarbeitnehmer (bei einem Entleiher) ab dem 1. April 2017 im Rahmen der Überlassungshöchstdauer gem. § 1 Abs. 1b AÜG berücksichtigt. Der EuGH (Urteil v. 17. März 2022 – C-232/20) hatte dies als problematisch angesehen, da dadurch die Beurteilung des „vorübergehenden“ Charakters der Zeitarbeit ab dem Inkrafttreten der Richtlinie im Jahr 2011 gefährdet werden und die wörtliche Auslegung von § 19 Abs. 2 AÜG den Regelungszweck der Zeitarbeitsrichtlinie vereiteln könne (vgl. Bissels/Münnich, AuA 2022, 54; Bissels/Münnich/Krülls, ArbRAktuell 2022, 247, 249). Die weitere Einordnung obliege allerdings den nationalen Gerichten. Ist eine richtlinienkonforme Auslegung nicht möglich, sei – so der EuGH – ein nationales Gericht in einem Rechtsstreit ausschließlich zwischen Privatpersonen aufgrund des Unionsrechts nicht verpflichtet, eine gegen eine Richtlinie verstoßende Übergangsvorschrift unangewendet zu lassen. 

Das BAG nimmt den EuGH beim Wort und stellt ohne weitere (ausführliche) Erklärung oder Begründung fest, dass § 19 Abs. 2 AÜG unionsrechtswidrig ist – und die Überlassungszeiten vor dem 1. April 2017 dennoch nicht auf die Überlassungszeiten danach anzurechnen seien. 

Das schafft Rechtsklarheit, auch wenn eine tiefergehende Auseinandersetzung mit der Thematik sicherlich wünschenswert gewesen wäre. Damit wird der gesetzgeberische Ansatz bestätigt, die Uhren mit Blick auf die maßgeblichen Überlassungszeiten ab dem 1. April 2017 „auf null“ zu stellen . Dies gilt sowohl für die Überlassungshöchstdauer nach § 1 Abs. 1 S. 4, Abs. 1b AÜG als auch für das zwingende gesetzliche Equal Pay nach § 8 Abs. 1 AÜG. Dass der Gesetzgeber in diesem Zusammenhang eine europarechtswidrige Regelung getroffen hat, vermag die Wirkung der gesetzlichen Bestimmung im Verhältnis zu privaten Dritten nicht auszuschließen. Hier schließen sich nun aber weitere Fragen an: Setzt sich die Bundesrepublik Deutschland ggf. einem von der EU-Kommission angestoßenen Vertragsverletzungsverfahren aus? Kann der benachteiligte Arbeitnehmer möglicherweise gegen den Staat einen Schadensersatzanspruch geltend machen? Hier bleibt die weitere Entwicklung aber zunächst abzuwarten. 

Gemeinschaftsbetrieb bleibt der Praxis als sinnvolles Gestaltungsmittel erhalten

Die zentrale Erkenntnis für die Praxis lautet, dass der Gemeinschaftsbetrieb ein sinnvolles Gestaltungsmittel für die Kooperation mehrerer Unternehmen auf Personalebene (auch als alternative Form der Zusammenarbeit mehrerer Unternehmen) darstellen kann, insbesondere um Arbeitnehmer längerfristig in einem Kundeneinsatz halten zu können und dennoch eine Arbeitnehmerüberlassung und die Anwendung der damit zusammenhängenden strengen regulatorischen Bestimmungen des AÜG zu vermeiden. 

Wichtig ist dabei, 

  • ein einheitliches Leitungsgremium in den wesentlichen personellen und sozialen Angelegenheiten zu installieren und dies, z.B. in Organisationscharts, entsprechend niederzulegen,
  • eine Betriebsführungsvereinbarung abzuschließen (aus Beweisgründen wird hierfür die Schriftform empfohlen),
  • den im Gemeinschaftsbetrieb verfolgten Betriebszweck zu dokumentieren und die Art und Weise der Entscheidungsfindung des Leitungsgremiums in betriebsverfassungsrechtlichen Angelegenheiten zu dokumentieren sowie
  • Zeichnungsbefugnisse der maßgeblichen Personen, u.a. in betriebsverfassungsrechtlichen Angelegenheiten, festzulegen. 

Im Ergebnis führt die Entscheidung des BAG also auch zu mehr Dokumentationsaufwand, lässt aber den Unternehmen sodann – gerade im Vergleich zu den restriktiven Vorschriften des AÜG – eine größere Freiheit bei der Durchführung der unternehmensübergreifenden Zusammenarbeit.

Die Feststellung, dass vor dem 1. April 2017 liegende Überlassungszeiten trotz der Unionsrechtswidrigkeit von § 19 Abs. 2 AÜG nicht einzuberechnen sind, schafft Rechtssicherheit. Wegen des zeitlichen Abstands des § 19 Abs. 2 AÜG zum Inkrafttreten dürfte die Norm aber im weiteren Verlauf an Bedeutung verlieren; insofern ist das vorliegende Urteil des BAG vor allem für Altfälle, also für Überlassungen, die bereits vor dem 1. April 2017 begonnen und über diesen Zeitpunkt fortgeführt wurden, relevant.

*Gemeint sind Personen jeder Geschlechtsidentität. Um der leichteren Lesbarkeit willen wird im Beitrag die grammatikalisch männliche Form verwendet.

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