26. Juni 2019
Unfall Arbeitsweg
Arbeitsrecht

Berufsrisiko: nicht vom rechten Weg abkommen

Die Arbeitswelt hat ihre Tücken – was passieren kann, beleuchten die Beiträge dieser Serie. Heute: "Der Wegeunfall".

Als Dieter Koslowski* die Augen öffnete, musste er sich erst zurechtfinden. Er lag in einem ihm nicht bekannten Zimmer und sein linkes Bein schmerzte. Bewegen konnte er es nicht. Draußen am Fenster eine Aussicht mit Bäumen, die er nicht kannte. Das war auch nicht sein heimisches Schlafzimmer. Als er die Decke zurückschlug und sein eingegipstes Bein sah, dämmerte es ihm.

Koslowski versuchte den Morgen zu rekapitulieren.

Er hatte gemeinsam mit den Kindern das Haus verlassen und diese zwei Straßen weiter in die Kita gefahren. Das Jacken-aufhängen-und-Hausschuhe-anziehen hatte wieder einmal länger gedauert. Daher war er einige Minuten zu spät zum gemeinsamen Treffpunkt seiner seit vier Jahren bestehenden Fahrgemeinschaft gekommen. Rüdiger und Bea hatten aber nichts gesagt. Als er darauf hinwies, dass er noch tanken müsse, weil er das Tanken vergessen habe, gab es ein kurzes Murren. Bea ging ebenfalls mit rein, um sich eine Zeitschrift zu kaufen. Der Weg zum Geschäft war relativ staufrei. Den Wagen konnte er in einer Nebenstraße abstellen, in der – zum Glück – weder Anwohnerparken vorgesehen war, noch ein Parkschein gelöst werden musste. Gemeinsam bogen sie nochmals ab, um sich am Parkhaus mit der Geschäftsführerin zu treffen. Das machten sie auch schon seit Jahren, weil diese die Wechselgeld-Tasche und einige Uhren und Schmuckstücke morgens mit ins Geschäft brachte. Zu viert gingen sie Richtung Hintereingang. Im Hof war er dann über irgendetwas, das nicht auf dem Boden hätte liegen sollen, gestürzt. Und weil er sich nicht mehr bewegen konnte, hatten sie einen Krankenwagen gerufen, der ihn ins Krankhaus brachte.

Rüdiger hatte noch gesagt, „Wenn du länger ausfällst, muss HR das an die BG melden!″ – als wenn sie eine HR-Abteilung hätten. Aber langsam sortierten sich seine Gedanken: BG, das war doch die Berufsgenossenschaft, und gemeldet werden mussten Arbeits- und Wegeunfälle. War sein Sturz ein Wegeunfall? Das musste doch ein Wegeunfall sein.

Gesetzliche Unfallversicherung im Arbeits-, Ausbildungs- oder Dienstverhältnis

Die gesetzliche Unfallversicherung ist im siebten Buch des Sozialgesetzbuches (SGB VII) festgeschrieben. Jeder, der in einem Arbeits-, Ausbildungs- oder Dienstverhältnis steht, ist kraft Gesetzes versichert (§ 2 SGB VII). Der Versicherungsschutz besteht ohne Rücksicht auf Alter, Geschlecht, Familienstand oder Nationalität. Er erstreckt sich auf Arbeits- und Wegeunfälle (§ 8 SGB VII) sowie Berufskrankheiten (§ 9 SGB VII). Tritt ein Versicherungsfall (§ 7 SGB VII) ein, entschädigt die Unfallversicherung den Verletzten, seine Angehörigen oder Hinterbliebenen. Die Leistungen umfassen – je nach Einzelfall – die medizinische und berufliche Rehabilitation und die Zahlung von Übergangsgeldern und Renten.

Der Wegeunfall ist eine Form des Arbeitsunfalls und in § 8 Abs. 2 SGB VII definiert. Die Vorschrift ist recht ausführlich und regelt in zahlreichen Unterfällen, was genau beim Wegeunfall erfasst wird.

Unfall muss nicht nur dem Versicherungsträger angezeigt werden

Nach § 193 SGB VII müssen Unfälle dem Unfallversicherungsträger (Berufsgenossenschaft, Unfallversicherung) angezeigt werden, wenn Versicherte getötet oder so verletzt sind, dass sie mehr als 3 Tage arbeitsunfähig werden.

Die in der Vorschrift enthaltene Definition „Unfälle im Unternehmen″ wird nicht nur räumlich, sondern auch in sachlicher Hinsicht verstanden. Daher gehören auch Wegeunfälle, Unfälle auf Betriebswegen, auf Dienstreisen sowie Arbeitsgeräteunfälle dazu. Der Unternehmer/Arbeitgeber muss die Unfallmeldung innerhalb von 3 Tagen einreichen, nachdem er von dem Unfall Kenntnis erlangt hat.

Die Anzeige ist vom Betriebs- oder Personalrat mit zu unterzeichnen, außerdem müssen Sicherheitsfachkraft und Betriebsarzt über jede Unfallanzeige in Kenntnis gesetzt werden. Eine Durchschrift muss nach § 193 Abs. 7 SGB VII der für den Arbeitsschutz zuständigen Behörde (in NRW das Amt für Arbeitsschutz bei den Bezirksregierungen) übersenden. Der Versicherte kann vom Unternehmer verlangen, dass ihm eine Kopie der Anzeige überlassen wird (§ 193 Abs. 4 SGB VII).

„Unfall“ in der Rechtsprechung definiert und umschrieben

Ein Unfall ist ein von außen auf den Körper einwirkendes Ereignis (BSG, Urteil v. 9. Mai 2005 – B 2 U 1/05 R). Ein solches Ereignis kann z.B. auch ein Stolpern oder ein Sturz sein. Körperinnere Ursachen, wie z.B. ein Herzinfarkt oder ein Schlaganfall sind dagegen kein Unfallereignis. Eine derartige innere Ursache kann aber auch durch einen äußeren Vorgang hervorgerufen worden sein und damit die Anforderung erfüllen (BSG, Urteil v. 2. Februar 1999 – B 2 U 6/98 R).

Für den Unfall muss es sich zudem um ein plötzliches Ereignis handeln. Das Ereignis muss also zeitlich begrenzt sein, nach der Rechtsprechung längstens eine Arbeitsschicht lang andauern (BSG, Urteil v. 8. Dezember 1998 – B 2 U 1/98 R). Außerdem muss sich das plötzliche Ereignis innerhalb einer Arbeitsschicht ereignet haben.

Das Ereignis muss auf den Körper einwirken, also einen Gesundheitsschaden (z.B. Schnitt, Prellung, Bruch, psychische Erkrankung) auslösen. Ohne Wirkung kann kein Unfallereignis vorliegen.

Darüber hinaus muss der Unfall sich infolge einer versicherten Tätigkeit ereignet haben. Die Handlung, bei der sich der Unfall ereignet hat, muss wesentlich dem Unternehmen dienlich sein, von dem sich die versicherte Tätigkeit ableitet. Die Rechtsprechung zieht als subjektives Element die „Handlungstendenz″ heran und nimmt eine „wertende Zuordnung″ vor, ob die Verrichtung „innerhalb der Grenzen des Versicherungsschutzes liegt″. Natürlich hat sich die Rechtsprechung mit zahlreichen Abgrenzungsfragen befasst, wann der Unfall bei einer versicherten Tätigkeit oder eigenwirtschaftlichen Tätigkeit des Arbeitnehmers** bzw. bei gemischten Tätigkeiten aufgetreten ist.

Wegeunfall: Startpunkt ist die äußere Haustür

Ein Wegeunfall liegt vor, wenn ein Unfall sich auf einem versicherten Weg ereignet hat.

Versichert ist der Weg „nach und von dem Ort der Tätigkeit″. Der Versicherte kann diesen Weg mehr als einmal pro Tag zurücklegen, also z.B. das Mittagessen zu Hause einzunehmen und anschließend wieder den Tätigkeitsort aufsuchen; er ist auf Hin- und Rückweg versichert (BSG, Urteil v. 19. Juni 2018 – B 2 U 1/17 R, Rn. 22).

Der Weg beginnt beim Verlassen des häuslichen Bereichs. Dies ist die Außentür des Gebäudes, in dem der Versicherte wohnt. Das gilt im Übrigen auch bei Mehrfamilienhäusern. Wer noch im Treppenhaus stürzt, hat keinen Wegeunfall.

Umwege und Abwege können Versicherungsschutz entfallen lassen

Grundsätzlich ist nur der unmittelbare Weg versichert. Auf Umwegen oder Abwegen kann der Versicherungsschutz entfallen. Kleine, privaten Zwecken dienende Umwege lassen den Versicherungsschutz nicht entfallen. Wer am Straßenrand an einem Kiosk eine Zeitung kauft und seinen Weg anschließend fortsetzt, bleibt versichert. Wer allerdings einen Abweg nimmt, also die eigentliche Zielrichtung ändert und schließlich wieder umkehren muss, um den Arbeitsort zu erreichen, der ist nicht mehr versichert.

Versicherungsschutz erstreckt sich auf Wege zur Kinderbetreuung

§ 8 Abs. 2 Nr. 2 – 4 SGB VII dehnt den Versicherungsschutz aus sozialpolitischen Gründen weiter aus:

Bestimmte abweichende Wege bleiben allerdings versichert, beispielsweise, wenn ein Kind fremder Obhut anvertraut wird (§ 8 Abs. 2 Nr. 2a SGB VII). Die Obhut kann bei Verwandten und Bekannten (BT-Drs. VI/1333, S. 5) wie auch in organisierten Jugendgruppen, bei einer Tagespflegeperson oder in Kindergärten geschehen. Versichert ist der Weg zur Kita aber nur, wenn er während des Weges zur Arbeitsstätte erfolgt. Wer zunächst das Kinder wegbringt, um danach nach Hause zurückzukehren und von dort den Weg ins Büro anzutreten, ist auf dem Weg zur Kita nicht versichert. Im Übrigen bildet auch hier die Außentür die räumliche Grenze, der Aufenthalt im Haus der Obhutsperson ist nicht versichert: Wer die Kita betritt und dort verunfallt, fällt nicht unter den Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung.

Voraussetzung für einen Versicherungsschutz ist auch, dass das Kind wegen der beruflichen Tätigkeit des Versicherten oder seines Ehegatten oder Lebenspartners fremder Obhut anvertraut wird. Allerdings wird nicht verlangt, dass beide Elternteile aus beruflichen Gründen gleichzeitig abwesend sind (Jahn, SGB VII § 8 Rn. 142).

Fahrgemeinschaften bilden ist möglich

Ausdrücklich in den Versicherungsschutz einbezogen sind Fahrgemeinschaften gemäß § 8 Abs. 2 Nr. 2 b SGB VII. Wer einen abweichenden Weg wählt, der dadurch bedingt ist, dass er mit anderen Berufstätigen oder Versicherten gemeinsam ein Fahrzeug benutzt, bleibt im Versicherungsschutz der gesetzlichen Unfallversicherung. Es reicht die einmalige Mitnahme von Kollegen aus, es müssen aber Berufstätige bzw. Versicherte sein. Ist dies der Fall, dann bleiben auch lange Umwege oder Abwege zum gemeinsamen Treffpunkt versichert (BSG, Urteil v. 12. Januar 2010 – B 2 U 36/08 R).

Ist Tanken „notwendig“, kann Versicherungsschutz bestehen bleiben

Tanken ist grundsätzlich eine unversicherte Vorbereitungshandlung. Das Tanken ist nur ausnahmsweise vom Versicherungsschutz umfasst, wenn es während des versicherten Wegs unvorhergesehen erforderlich wird. Ob das der Fall war, ist von den Umständen des Einzelfalls abhängig. Wem also erst auf dem Weg auffällt, dass der Sprit nicht ins Büro reicht, bleibt auch beim Tanken an der Tankstelle versichert. Früh blinkende Tank- und Reichweitenanzeige bei überschaubaren Fahrstrecken müssten diesen Fall für die Praxis eher zur Ausnahme machen. Das Bundessozialgericht hält Tanken aber auch in den Fällen für „unvorhergesehen“ notwendig, in denen sich – ohne dass es auf den Füllstand des Tanks bei Antritt der Fahrt ankommt – bereits bei Fahrtantritt oder später während der Fahrt ergibt, dass der Reservetank in Anspruch genommen werden muss (BSG, Urteil v. 11. August 1998 – B 2 U 29/97 R). Die jüngere Instanzrechtsprechung handhabt das Merkmal „unvorhergesehen“ jedoch restriktiv: Kraftstoffverlust aufgrund eines technischen Defekts, Motorstörungen, erhöhtes Heizverhalten oder erhöhte Nutzung der Klimaanlage aufgrund eines Staus (Beck-SozialR § 8 Rn. 187.1).

Parken: Verhältnismäßigkeit beachten

Solange der Versicherte den Weg von oder nach dem Ort der versicherten Tätigkeit fortsetzt, tritt keine Unterbrechung ein. Er bleibt im gesamten öffentlichen Verkehrsraum geschützt. Auch das Parken des eigenen Wagens gehört dazu; allerdings kommt es auf den Einzelfall an, welche Umwege zur Parkplatzsuche und Entfernungen zum Tätigkeitsort den Zusammenhang zum Dienst noch aufrechterhalten. Wer einen Parkplatz in weiter Entfernung oder am anderen Ende der Stadt aufsucht, befindet sich auf einem Abweg und ist nicht mehr versichert.

Gemeinsamer Treffpunkt aus Sicherheitsgründen

Nach einer Entscheidung des SG Osnabrück (Urteil v. 16. Mai 2019 – S 19 U 123/18) kann das Verlassen des direkten Weges zum Arbeitsort versichert sein, wenn es aus Sicherheitsgründen erfolgt. Im entschiedenen Fall trafen sich eine langjährige Mitarbeiterin und die Geschäftsführerin eines Juweliergeschäfts in einiger Entfernung, um den Weg zum Juweliergeschäft gemeinsam zurückzulegen und gemeinsam das Geschäft aufzuschließen. Das Sozialgericht entschied, dies sei ein aus Sicherheitsaspekten dem Unternehmen dienender Grund, da die gegenseitige Begleitung der Gefahr eines Unfalls begegne.

Angekommen am Ort der Tätigkeit

Wer sich allerdings schon am Ort der Tätigkeit befindet, ist nicht mehr auf dem „Weg nach dem Ort der Tätigkeit″. Dieser endet im Allgemeinen mit dem Durchschreiten oder Durchfahren des Werkstores. Wer das Gelände des Geschäftsbetriebs bereits erreicht und dort auf dem Weg zum Arbeitsplatz stolperte, erleidet keinen Wegeunfall gemäß § 8 Abs. 2 SGB VII, sondern einen Arbeitsunfall gemäß § 8 Abs. 1 SGB VII (LAG München, 27.11.2018 – 7 Sa 365/18).

Auch bei Dieter Koslowski war das der Fall: sein Sturz ereignete auf dem Hof seines Arbeitgebers, nachdem er den Hintereingang genommen hatte. Wäre er dagegen beim Weg zum Auto, zur Kita oder vom Parkplatz gestürzt, würde es sich um einen Wegeunfall handeln.

Es gibt weitere Berufsrisiken – die Serie wird fortgesetzt.

Lesen Sie hier: Berufsrisiko: Leider geheim!, Berufsrisiko: Schnelle Fahrt mit Folgen und Berufsrisiko: Besuch vom Amt.

*Unsere Personen und die Handlungen sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit lebenden Personen oder tatsächlichen Begebenheiten wären rein zufällig.

**Gemeint sind Beschäftigte jeder Geschlechtsidentität. Lediglich der leichteren Lesbarkeit halber wird künftig bei allen Bezeichnungen nur noch die grammatikalisch männliche Form verwendet.

Tags: Autopanne Umweg Unfall Arbeitsweg WEG