Es könnte sein, dass zukünftig Verstöße gegen die Pflicht zur Massenentlassungsanzeige nicht mehr (in allen Fällen) zur Unwirksamkeit der Kündigung führen.
Bislang galt: Fehler bei Konsultation und Anzeige von Massenentlassungen führen regelmäßig (mit wenigen Ausnahmen) zur Unwirksamkeit ausgesprochener Kündigungen. Nun stellt das BAG erstmals die bislang eigene rigorose Rechtsprechung zur Unwirksamkeitsfolge in Frage. Mit seiner Entscheidung vom 11. Mai 2023 setzt der Sechste Senat die Entscheidung in den vorliegenden und ähnlichen Rechtsfragen bis zur Klärung durch den EuGH aus (Rechtssache C-134/22; BAG, Vorlagebeschluss v. 11. Mai 2023 – 6 AZR 157/22 [A]).
Nach bisheriger Rechtsprechung führt (nahezu jeder) Verstoß gegen die Pflicht zur Konsultation oder Anzeige zur Unwirksamkeit der Kündigung
Der deutsche Gesetzgeber hat die Massenentlassungsrichtlinie (MERL – 98/59/EG) in den §§ 17 ff. KSchG in nationales Recht umgesetzt. So ist der Arbeitgeber verpflichtet bei Kündigungen, die bestimmte quantitative Grenzen überschreiten, ein gesondertes Konsultationsverfahren mit dem Betriebsrat durchzuführen (zusätzlich zu etwaigen Beteiligungsrechten nach den §§ 111 BetrVG im Fall einer Betriebsänderung) und die Konsultation sowie die Entlassungen selbst gegenüber der zuständigen Arbeitsagentur anzuzeigen.
Seit Einführung dieser Vorgaben beschäftigen Fragen rund um die Auslegung der Verpflichtungen Rechtsprechung und Praxis. Während das BAG im Jahr 2005 das Fehlen einer Massenentlassungsanzeige nur als Entlassungshindernis einordnete (BAG, Urteil v. 16. Juni 2005 – 6 AZR 451/04), lässt die mittlerweile gefestigte Rechtsprechung keinen Spielraum: Seit 2012 hat das BAG konsequent Verstöße gegen die durch das Gericht vertretene Auslegung der §§ 17 KSchG mit der Unwirksamkeit der Kündigungen sanktioniert. Zwar enthalten die Vorschriften des KSchG keine eigenen Rechtsfolgen, doch zog das BAG die Unwirksamkeit der individuellen Kündigung Schlussfolgerung aus dem unionsrechtlichen „effet utile“-Gebot heran (erstmals: BAG, Urteil v. 22. November 2012 – 2 AZR 371/11). Das Sanktionssystem wurde seitdem in ständiger Rechtsprechung gefestigt (so u.a. in: BAG, Urteil v. 21. März 2013 – 2 AZR 60/12; 13. Juni 2019 – 6 AZR 459/18; 13. Februar 2020 – 6 AZR 208/19; Beschluss v. 27. Januar 2022 – 6 AZR 155/21). Denn effizienten Arbeitnehmerschutz als Zweck der zugrundeliegenden MERL könne man nur durch eine Einordnung der nationalen Vorgaben als Verbotsgesetz i.S.d. § 134 BGB erreichen, so das BAG.
Lediglich im Hinblick auf Fehler bei den sogenannten Soll-Angaben des § 17 Abs. 3 S. 5 KSchG hat das Gericht von der Unwirksamkeitssanktion abgesehen (BAG, Urteil v. 19. Mai 2022 – 2 AZR 467/21).
Beim EuGH anhängig ist nun auch die Frage, ob ein Verstoß gegen die Pflicht, die dem Betriebsrat im Rahmen der Konsultation zur Verfügung gestellten schriftliche Unterrichtung (§ 17 Abs. 2 S. 1 KSchG) gleichzeitig der Agentur für Arbeit als Abschrift zuzuleiten (§ 17 Abs. 3 S. 1 KSchG) zur Unwirksamkeit der Kündigung führen muss (BAG, Vorlagebeschluss v. 27. Januar 2022 – 6 AZR 155/21 [A]).
Betriebsbegriff und Größe als Tatbestandsvoraussetzung für Konsultation des Betriebsrates
Nach § 17 KSchG kommt es für die Pflicht zur Massenentlassungsanzeige (und bei Bestehen eines Betriebsrats zur vorausgehenden Konsultation) auf den Betrieb im Sinne der Richtlinie an (siehe hierzu die Air-Berlin Entscheidungen zur Verkennung des maßgeblichen Betriebsbegriffs und wiederum den Unwirksamkeitsfolgen: BAG, Urteil v. 13. Februar 2020 – 6 AZR 146/19). Fehler bei der Zuordnung – und damit bei der Zuständigkeit der Arbeitsagentur – führen ebenso zur Unwirksamkeit wie die Einbindung eines falschen Gremiums für die Konsultation (ebd.).
Entscheidend für Konsultation und Anzeige ist auch die Betriebsgröße, denn die Verpflichtungen aus der Richtlinie finden gestaffelt nach Betriebsgröße Anwendung. Diese ermittelt sich aus der Anzahl der regelmäßig beschäftigten Arbeitnehmer, die im Wege eines Rückblickes auf bisherige Personalstärken als auch mittels einer Prognose der künftigen Entwicklungen zu ermitteln ist (vgl. BAG, Urteil v. 24. Februar 2005 – 2 AZR 207/04).
Für die relevante Betriebsgröße kommt es auf die Zahl der in der Regel Beschäftigten an – hierbei ist auch die Betriebsgröße in der Vergangenheit zu berücksichtigen.
In dem Fall, der dem nunmehr ausgesetzten Verfahren zugrunde liegt, hat der Arbeitgeber eben diese Betriebsgröße abweichend von der Rechtsprechung eingeschätzt: So wurde über das Vermögen der Beklagten, einem Großhandels- und Wartungsunternehmen, im Dezember 2020 das Insolvenzverfahren eröffnet. Im Zuge dessen wurden im November und Dezember 2020 alle zu diesem Zeitpunkt noch bestehenden 22 Arbeitsverhältnisse gekündigt oder durch Abschluss eines Aufhebungsvertrages bis spätestens zum Ende März 2021 beendet. Bis September 2020 waren allerdings noch 25 Personen, unter anderem in Kurzarbeit, beschäftigt worden. Ein Betriebsrat bestand nicht. Eine Massenentlassungsanzeige wurde nicht erstattet.
Der Kläger, einer der gekündigten Arbeitnehmer, erhob erfolgreich Kündigungsschutzklage. Auch das LAG Hamburg bestätigte die erstinstanzliche Klagestattgabe mit Verweis auf die fehlende Massenentlassungsanzeige.
Die Beklagte berief sich hingegen auf die zu geringe Betriebsgröße und Auslegung des Tatbestandsmerkmals „in der Regel Beschäftigte“. Allerdings widersprach sie damit der bisherigen Rechtsprechung des EuGH zur Auslegung des Anwendungsbereichs der Richtlinie.
Durch den EuGH bislang jedoch noch nicht abschließend geklärt ist die Frage, welche Rechtsfolge der Verstoß gegen die (gesetzlichen) Vorgaben der Massenentlassungsrichtlinie haben muss.
Maßgabelich ist die Zwecksetzung der MERL: soll diese (nur) den Massenentlassungsschutz gewährleiten, oder hat diese auch individualschützende Wirkung
Das BAG (Beschluss v. 27. Januar 2022 – 6 AZR 155/21) hatte sich bereits im Januar 2022 mit der Frage befasst, ob die in § 17 Abs. 3 S. 1 KSchG normierte Unterrichtung der Agentur für Arbeit sowie § 17 Abs. 1 und 3 S. 2 KSchG ein Verbotsgesetz im Sinne des § 134 BGB darstellen. Dafür fragte das BAG beim EuGH nach dem Zweck der in Art. 2 Abs. 3 UAbs. 2 MERL vorgegebenen Verpflichtung. Für relevant hält das BAG insbesondere die Frage, ob die MERL (nur) individualschützende Wirkung oder auch (bzw. nur) Massenentlassungsschutz bezweckt. Nach Auffassung des Gerichts ergäben sich dann aus der Zwecksetzung die Folgen einer unwirksam gestellten oder gänzlich fehlenden Anzeige.
Diese Frage wirft das BAG auch im hiesigen Vorlagebeschluss und verweist das BAG auf das beim EuGH bereits anhängige Vorabentscheidungsverfahren und die Schlussanträge vom 30. März 2023 (C‑134/22). Darin setzt sich Generalanwalt Pikamäe intensiv mit dem Zweck der Vorschriften der MERL auseinander.
Die Pflichten aus Art. 2 Abs. 3 UAbs. 2 MERL verfolgten danach insbesondere das Ziel, die Konsultation der Arbeitnehmervertreter vor einer Massenentlassung sicherzustellen, sowie die zuständigen Behörden über das Vorhaben rechtzeitig zu unterrichten. Dadurch soll die Lückenlosigkeit der Informationsvermittlung gewährleistet werden, um rechtzeitig in Dialog mit den Arbeitgebern treten zu können. Der einzubeziehenden Behörde soll genügend Zeit eingeräumt werden, um Folgen und etwaig benötigte Abhilfemaßnahmen einschätzen zu können.
Erst zeitlich daran anschließend sei die Anzeige gegenüber der zuständigen Behörde zu erstatten. Hervorgehoben wird noch einmal, dass nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs
Arbeitsverträge jedenfalls nicht vor der Anzeige der beabsichtigten Massenentlassung bei der Behörde gekündigt werden
dürfen (Rn. 33).
Im Anschluss daran führt Pikamäe jedoch Argumente an, die gegen eine Nichtigkeit der Kündigung im Falle einer unterlassenen Anzeige sprechen. Denn Zweck sei es insbesondere, den Behörden in einem frühen Stadium eine Vorbereitung zu ermöglichen. Damit soll § 17 Abs. 3 KSchG einen kollektiven Schutz schaffen. Die Massenentlassung soll nicht im Hinblick auf jeden einzelnen Arbeitnehmer betrachtet werden, sondern vielmehr allgemein in ihren Folgen (Rn. 51). Daher soll insbesondere den Mitarbeitervertretern das Recht eingeräumt sein, zu überprüfen, ob das Massenentlassungsanzeigeverfahren eingehalten wurde.
Konkret empfiehlt der Generalanwalt, die Vorlagefrage des BAG so zu beantworten, dass die Auslegung der Vorschrift der MERL einen kollektiven Charakter fordere, der die Behörden in einer frühen arbeitsmarktpolitischen Vorbereitung unterstütze und Arbeitnehmervertretern lediglich eine Überprüfungsmöglichkeit einräumt. Hiermit steht aber die Unwirksamkeitsfolge der (individuellen) Kündigung – wie vom BAG bislang vertreten – in Widerspruch.
Zweifel an Unwirksamkeitsfolge bei Fehlern im Verfahren zur Massenentlassungsanzeige: Folgen für die Praxis
Die Entscheidung des EuGH bleibt spannend. Diese wird noch in diesem Jahr erwartet.
Sollte der EuGH zu dem Schluss kommen, dass es sich bei der MERL um eine Regelung mit kollektiver Schutzrichtung handle und es grade keiner Sanktion durch Unwirksamkeit der einzelnen Kündigung bedarf, bleibt abzuwarten, ob diese Einschränkung nur dann gilt, wenn (in einem betriebsratslosen Betrieb) unter Verkennung der Betriebsgröße lediglich die Anzeige unterblieben ist (oder wie im ebenfalls dem EuGH vorliegenden Verfahren versäumt wurde, der Arbeitsagentur eine Abschrift der schriftlichen Unterrichtung des Betriebsrats zukommen zulassen). Oder ob die Unwirksamkeitsfolge auch dann entfällt, wenn etwa Fehler im Rahmen der Konsultation aufgetreten sind. Interessant wird dann weiter sein, ob die Unwirksamkeitsfolge dann generell entfällt, oder nur für bestimmte Verstöße im Rahmen der Konsultation oder Anzeige.
Bis zur abschließenden Entscheidung des EuGH und des BAG sind Arbeitgeber jedoch weiterhin gut beraten, sowohl das Konsultationsverfahren als auch die eigentliche Massenentlassungsanzeige mit größter Sorgfalt durchzuführen.