Mit dem Brexit-Referendum ist der Art. 50 EUV hochaktuell geworden. Die Auswirkungen des Brexits bleiben ungeklärt, bis ein Abkommen getroffen wird.
Kaum eine Vorschrift der europäischen Verträge dürfte der breiten Öffentlichkeit wenigstens nominell so vertraut geworden sein wie Artikel 50 des Vertrags über die Europäische Union (EUV). Er enthält, wenn auch bei näherem Hinsehen nicht einmal ausdrücklich, ein einseitiges Austrittsrecht jedes Mitgliedstaats der EU und regelt das Austrittsverfahren.
Zugleich wird deutlich, dass sich auf Grundlage des Art. 50 EUV die Konsequenzen eines Brexit in vielerlei Hinsicht derzeit kaum präzise vorhersagen lassen – so auch für den Bereich Dispute Resolution.
Die „sunset clause“: Was nach dem Austrittsantrag kommt
Nach Art. 50 Abs. 3 EUV finden die europäischen Verträge ab dem Inkrafttreten des auszuhandelnden Austrittsabkommens bzw. grundsätzlich zwei Jahre nach dem Austrittsantrag („sunset clause″) auf den austretenden Mitgliedstaat keine Anwendung mehr.
EU-Recht hätte ab diesem Zeitpunkt keine Geltung mehr für das Vereinigte Königreich. D.h. insbesondere weder die erst vor kurzem reformierte Zuständigkeits-, Anerkennungs- und Vollstreckungsverordnung (sog. Brüssel Ia-VO) noch die Rom I- und Rom II-VO, die das auf vertragliche und außervertragliche Schuldverhältnisse anwendbare Recht bestimmen.
Gelten die Verordnungen nicht mehr, bestehen für Verfahren vor staatlichen Gerichten u.a. folgende Konsequenzen:
- Das Vereinigte Königreich würde nicht mehr an der Urteilsfreizügigkeit partizipieren: Die dortige Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen aus EU-Mitgliedstaaten wäre potentiell erschwert.
- Umgekehrt würde sich die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen aus dem Vereinigten Königreich in vielen Mitgliedstaaten, vorbehaltlich etwaiger bilateraler Abkommen, nach den tendenziell erhöhten Voraussetzungen für Entscheidungen aus Drittstaaten richten. Nichts anderes gilt für die nach Brüssel Ia grundsätzlich mögliche Vollstreckung von einstweiligen Maßnahmen (Art. 2 lit. a i.V.m. Kapitel III Brüssel Ia-VO). Auch dieses Regime gilt nur für Mitgliedstaaten der EU.
- Im Verhältnis EU-Vereinigtes Königreich würden keine einheitlichen Regeln über die Rechtshängigkeit mehr gelten. Derzeit sperrt grundsätzlich ein früher eingeleitetes Verfahren in irgendeinem Mitgliedstaat jedes spätere Verfahren über den gleichen Streitgegenstand in einem anderen Mitgliedstaat (Artikel 29 Brüssel Ia-VO). Das gilt auch für negative Feststellungsklagen.
- Aus Sicht der EU-Staaten würde nach dem Austritt des Vereinigten Königreichs hingegen der engere Artikel 33 Brüssel Ia-VO bezüglich Verfahren im Vereinigten Königreich zur Anwendung kommen. Parteien vor einem dortigen Gericht könnten sich einer Sperrwirkung für die EU weniger sicher sein. Auf der anderen Seite würde es sich nach dem Recht des Vereinigten Königreichs richten, ob ein früheres Verfahren in einem EU-Staat ein dortiges Verfahren sperrt oder nicht.
- Gerichtsstandsklauseln zugunsten Gerichten des Vereinigten Königreichs würden nicht mehr von der gerade erst geschaffen Priorität gem. Artikel 31 Abs. 2 Brüssel Ia-VO profitieren. Danach gilt die soeben geschilderte Sperrwirkung des früher eingeleiteten Verfahrens nicht, wenn das später angerufene mitgliedstaatliche Gericht von den Parteien in einer Gerichtsstandsvereinbarung bezeichnet wurde.
- Inwieweit sich über Artikel 33 Brüssel Ia-VO ein vergleichbarer Effekt bei Drittstaaten-Gerichtsstandsklauseln erzielen lässt, ist noch ungeklärt.
- Gerichte im Vereinigten Königreich könnten im Verhältnis zu EU-Mitgliedstaaten wieder Gebrauch von der forum non conveniens-Doktrin machen. Der EuGH hatte sich gegen diese Doktrin gestellt. Es stünde dann (wieder) in ihrem Ermessen, ob sie trotz an sich gegebener Zuständigkeit ein Verfahren zulassen oder in Anbetracht eines vermeintlich besser geeigneten Gerichts in einem anderen Staat ihre Zuständigkeit (vorübergehend) verneinen.
- Gerichte im Vereinigten Königreich könnten im Verhältnis zu EU-Mitgliedstaaten wieder anti-suit injunctions erlassen. Mit ihnen verbietet ein Gericht einer Partei, anderswo ein Verfahren zu betreiben, mit der Folge von Strafzahlungen bei Zuwiderhandlungen. Der EuGH hatte anti-suit injunctions für unzulässig erklärt.
- Da es sowohl nach der Rom I- als auch nach der Rom II-VO keine Rolle spielt, ob das auf einen Fall anwendbare Recht das eines Mitgliedstaats oder das eines Drittstaats ist, wäre aus Sicht der Gerichte der EU-Mitgliedstaaten englisches Recht je nach Fall weiterhin anwendbar. Eine bislang wirksame Wahl englischen Rechts hätte damit auch in Zukunft Bestand. Umgekehrt würde sich die Frage des anwendbaren Rechts vor Gerichten des Vereinigten Königreichs nach deren Recht richten. Das kann im Einzelfall bedeuten, dass dort anderes Recht zur Anwendung kommt. Für deliktische Ansprüche etwa stellt die Rom II-VO grundsätzlich auf den Ort des Schadenseintritts ab, während es nach bisherigem englischen Recht auf den Handlungsort ankam.
Geringere Auswirkungen in der Schiedsgerichtsbarkeit
Die Auswirkungen für die Dispute Resolution wären voraussichtlich gering: Die Anerkennung und Vollstreckung von Schiedssprüchen richtet sich im Wesentlichen nach dem New Yorker Übereinkommen von 1958, an das das Vereinigte Königreich selbstverständlich auch nach einem Brexit noch gebunden ist.
Wie im Bereich der staatlichen Gerichtsbarkeit schon erwähnt, dürften sich allerdings Gerichte im Vereinigten Königreich wieder ermächtigt sehen, anti-suit injunctions zu erlassen: Diese könnten (wieder) auch zur Durchsetzung/Absicherung von Schiedsverfahren ergehen.
Auswirkungen bleiben ungeklärt, bis ein Abkommen besteht
Die dargestellten Auswirkungen hängen davon ab, dass in (oder zusätzlich zu) den Austrittsverhandlungen nach Artikel 50 Abs. 2 EUV keine Regelungen über die angesprochenen Aspekte getroffen werden.
Es ist denkbar, dass ein Fortbestand der bisherigen Rechtsakte vereinbart wird, etwa im Wege eines gleichlautenden Abkommens. Oder aber das Vereinigte Königreich tritt dem Lugano-Übereinkommen bei. Dieses befindet sich zurzeit in einem Reformprozess und dürfte schließlich mehr oder weniger der Brüssel Ia-VO gleichen.
Diskutiert wird auch, dass es zu einem Rückfall auf das Brüsseler Übereinkommen kommen könnte, dem Vor-Vorgänger der Brüssel Ia-VO – dieses hat allerdings eine geringere geographische Reichweite.
Bis zum Brexit aktuelle Rechtslage nutzen
Für die Zeit bis zu einer Klärung all dieser Frage gilt Folgendes: Soweit möglich, dürfte es ratsam sein, die derzeit noch relativ sichere und einheitliche Rechtslage auszunutzen. Insbesondere dürfte es angebracht sein, Vollstreckungen von Entscheidungen aus EU-Mitgliedstaaten im Vereinigten Königreich oder umgekehrt rasch voranzutreiben, um auf jeden Fall in den Genuss der Brüssel Ia-VO zu kommen.
Ferner lassen sich – außer bei Gerichtsstandsvereinbarungen zugunsten Gerichten des Vereinigten Königreiches (Artikel 31 Abs. 2 Brüssel Ia-VO) – etwaig angedrohte Verfahren im Vereinigten Königreich derzeit noch relativ sicher mit einer sperrenden Klage anderswo in der EU begegnen, sofern dort ein Gerichtsstand gegeben ist.
Insbesondere für neue Verträge sollte man sich etwa in puncto Wahl des Gerichtsstands gut überlegen, ob das Vereinigte Königreich angesichts der geschilderten Unwägbarkeiten noch ein attraktiver Standort ist und ob nicht ein EU-Mitglied gegebenenfalls für einen vorhersehbareren Verfahrensgang und klarere Vollstreckungsmöglichkeiten im Rest der EU steht. Für den Fall, dass kein Gerichtsstand im Vereinigten Königreich vereinbart werden soll, gehört auch die Frage der Wahl englischen Rechts auf den Prüfstand.
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