Die vorläufige Erteilung einer patentrechtlichen Zwangslizenz für einen HIV-Wirkstoff bleibt bestehen. Dies entschied der BGH mit Urteil vom 11. Juli 2017.
Der BGH hat mit seiner Entscheidung vom 11. Juli 2017 die Entscheidung des Bundespatentgerichts, mit der erstmals in der bundesdeutschen Geschichte eine patentrechtliche Zwangslizenz vorläufig erteilt wurde, bestätigt. Zumindest bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache können die betreffenden Medikamente damit weiter in Deutschland vertrieben werden.
Bereits das Bundespatentgericht hatte mit seiner Entscheidung (Az.: 3 LiQ 1/16 (EP), PDF), eine Zwangslizenz in Bezug auf ein betreffendes Patent zu erteilen, juristisches Neuland betreten. Die Entscheidung erfolgte im Wege der einstweiligen Verfügung gemäß §§ 24 Abs. 1, 85 PatG.
Der BGH hat diese Entscheidung nunmehr bestätigt. Die drei antragstellenden Unternehmen der MSD-Unternehmensgruppe haben damit das Recht, das HIV-Medikament „Isentress“ bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache weiterhin in Deutschland zu vertreiben. Unterlassungsansprüche der japanischen Patentinhabern Shionogi sind bis zu diesem Zeitpunkt ausgeschlossen. Über die Höhe der angemessenen Lizenzgebühr für die Zwangslizenz werden die Gerichte ebenfalls im Hauptsacheverfahren entscheiden.
Die Entscheidung des Bundespatentgerichts – Zwangslizenz für HIV-Medikament
Mit Urteil vom 31. August 2016 hat das Bundespatentgericht (Az.: 3 LiQ 1/16 (EP), PDF) auf Antrag von drei Unternehmen der MSD-Unternehmensgruppe im Wege der einstweiligen Verfügung eine Zwangslizenz erteilt. Diese gilt für die Nutzung des HIV-Wirkstoffs Raltegravir in den vier Dosierungen, in denen das Medikament „Isentress″ seinerzeit in Deutschland vertrieben wurde.
Die MSD-Unternehmensgruppe hatte bereits lange zuvor das Medikament „Isentress“ in Europa vertrieben, sah sich aber Unterlassungsansprüchen aus einem 2012 für Shionogi erteilten europäischen Patent ausgesetzt. Das europäische Patent wurde im Einspruchsverfahren mit geänderten Schutzumfang aufrechterhalten. Die abschließende Beurteilung der Einsprüche durch die technische Beschwerdekammer des Europäischen Patentamts steht jedoch noch aus.
Die Erteilung einer Zwangslizenz unterliegt nach § 24 Abs. 1 PatG zwei Voraussetzungen:
- der Lizenzsucher muss sich innerhalb eines angemessenen Zeitraumes erfolglos bemüht haben, vom Patentinhaber die Zustimmung zu erhalten, die Erfindung zu angemessenen geschäftsüblichen Bedingungen zu benutzen, und
- das öffentliche Interesse muss die Erteilung einer Zwangslizenz gebieten.
Zwangslizenz nur nach vorangegangenen ernsthaften Verhandlungen
Das Bundespatentgericht hat hierzu entschieden, dass dem Verlangen nach einer Zwangslizenz ernsthafte Verhandlungen vorangehen müssen. Diese Voraussetzung dürfe aber im Hinblick auf das zusätzlich erforderliche öffentliche Interesse nicht allzu streng beurteilt werden.
Im konkreten Fall hielt das Bundespatentgericht das Angebot einer einmaligen Lizenzzahlung in Höhe von zehn Millionen US-Dollar für eine weltweite Lizenz ausreichend. Bei der Bestimmung der Höhe der angebotenen Lizenzzahlung durfte nach Ansicht des Bundespatentgerichts die MSD-Unternehmensgruppe zudem berücksichtigen, dass über den Bestand des europäischen Patents noch nicht abschließend durch das Europäische Patentamt entschieden ist und einen entsprechenden Abschlag vornehmen.
Hohe Hürden für das öffentliche Interesse
Als gewichtiges öffentliches Interesse wurde schon immer die öffentliche Gesundheitsvorsorge in der patentrechtlichen Diskussion angeführt. Im aktuellen Fall hat sich aber erwiesen, dass auch bei Medikamenten für schwerwiegende Erkrankungen die Hürden für die Erteilung einer Zwangslizenz sehr hoch sind.
Das ist vor dem Hintergrund des schwerwiegenden Eingriffs in das Eigentumsgrundrecht des Patentinhabers auch gerechtfertigt. Entscheidend für die vorläufige Erteilung einer Zwangslizenz war für das Bundespatentgericht, dass es bestimmte HIV-Patientengruppen gibt, die auf eine Versorgung mit „Isentress“ angewiesen sind. Eine Umstellung auf andere Medikamente wäre nach den Feststellungen des Bundespatentgerichts nur mit erheblichen Behandlungsrisiken (bspw. möglichen schweren Neben- und Wechselwirkungen) und einem Verlust bzw. einer Verringerung der Behandlungsgüte möglich gewesen.
Insbesondere bei Säuglingen, Schwangeren, Kindern unter zwölf Jahren und Personen, die aufgrund bestehender Infektionsgefahr eine prophylaktische Behandlung benötigen sowie bereits mit „Isentress″ behandelten Patienten sei ein Einsatz alternativer HIV-Medikamente vor diesem Hintergrund nicht möglich. Dies sei aber angesichts der möglichen Folgen, auch was das Infektionsrisiko der gesunden Bevölkerung betrifft, nicht hinnehmbar.
Bestätigung der Entscheidung des Bundespatentgerichts durch den BGH
In seiner Entscheidung auf die Beschwerde von Shionogi hat der BGH die einstweilige Erteilung einer Zwangslizenz durch das Bundespatentgericht aufrechterhalten. Der BGH teilt dabei die Würdigung des Sachverhalts durch das Bundespatentgericht in den beiden wesentlichen Punkten: Die nicht endgültig geklärte Bestandskraft des europäischen Patents rechtfertige im konkreten Fall das Angebot einer Einmalzahlung für die Patentnutzung. Zudem bestehe ein gewichtiges öffentliches Interesse im Hinblick auf besonders schutzwürdige Patientengruppen, für die kein gleichwertiges Medikament zu Verfügung stehe, womit die Zwangslizenz im Interesse der öffentlichen Gesundheitsvorsorge liege.
Bedeutung vor allem für den Pharmamarkt
Das Instrument der patentrechtlichen Zwangslizenz spielte nicht zufällig in der jüngeren Vergangenheit ausschließlich in Fällen um arzneimittelbezogene Patente eine Rolle. Der Schutz der öffentlichen Gesundheitsvorsorge wird von den Gerichten zu Recht als hohes Gut erachtet und ist auch in anderen Rechtsordnungen bei der Erteilung von Zwangslizenzen von herausragender Bedeutung.
In beiden Entscheidungen wurde dennoch betont, dass in jedem konkreten Einzelfall dargelegt und bewiesen werden muss, dass die Erteilung der Zwangslizenz aus Gründen der öffentlichen Gesundheitsvorsorge geboten ist. Das gewichtige öffentliche Interesse überwiegt also den Schutz des Eigentumsgrundrechts des Patentinhabers.
Einer Erteilung einer patentrechtlichen Zwangslizenz aus anderen (vorgeschobenen) Gründen zum Zwecke des Schutzes der heimischen Wirtschaft, wie aus den Zwangslizenzentscheidungen bspw. aus Indien bekannt und nachfolgend auch als Tendenzen in der Gesetzgebung anderer Schwellenländer erkennbar, haben sowohl das Bundespatentgericht als auch der BGH zu Recht eine Absage erteilt. Dazu legten sie einen strengen Maßstab an das gewichtige öffentliche Interesse an.
Ihre Wirkung wird die Entscheidung des BGH dennoch vor allem im Hinblick auf künftige Lizenzverhandlungen in der Pharmabranche entfalten. Gut beratene Patentinhaber werden bei entsprechenden Konstellationen das Risiko einer Zwangslizenz in den Verhandlungen angemessen berücksichtigen. Für Lizenzsuchende hat der bisherige Verfahrensgang erwiesen, dass sich hinter der patentrechtlichen Zwangslizenz kein Papiertiger verbirgt. In Ausnahmefällen stellt sie ein scharfes Schwert dar, mit dem in das freie Marktgeschehen eingegriffen werden kann.