Die Große Beschwerdekammer des Europäischen Patentamts hat bestätigt, dass Computersimulationen patentierbar sein können. Eine potentielle "technische Wirkung" kann ausreichen.
Die Entscheidung der großen Beschwerdekammer (G 01/19) betraf eine Patentanmeldung einer US-Firma. Die Anmelderin begehrt Patentschutz für eine Computersimulation, mit der die Bewegung von mehreren Fußgängern durch ein Gebäude simuliert werden kann. Derartige Simulationen haben einen hohen praktischen Nutzen bei der Gebäudeplanung, beispielsweise um in Stadien oder Bahnhöfen ausreichend Raum für Fluchtwege vorzusehen.
Die zuständige Prüfabteilung lehnte die Patenterteilung mit der Begründung ab, dass dem beschriebenen Verfahren – außer der Implementierung auf einem Computer – der für die Erteilung notwendige technische Charakter fehle. Hiergegen richtete sich die Patentanmelderin zunächst im Beschwerdeverfahren. Die Beschwerdekammer legte die Sache daraufhin der großen Beschwerdekammer zur Entscheidung vor, die am 10. März 2021 in der Sache entschieden hat.
Computerimplementierte Erfindungen müssen den Zwei-Hürden-Ansatz überwinden
Die große Beschwerdekammer setzt sich in der gut 66 Seiten umfassenden Entscheidung detailliert mit der Patentierbarkeit von computerimplementierten Erfindungen auseinander. Patentschutz kann für Erfindungen auf technischem Gebiet erteilt werden, sofern die Erfindungen neu sind, auf einer erfinderischen Tätigkeit beruhen und gewerblich anwendbar sind (Art. 52 (1) EPÜ).
Diese Anforderungen gelten auch, wenn Patentschutz für Erfindungen im Zusammenhang mit Software gesucht wird. Zwar sind bei einer Patenterteilung stets alle Kriterien zu prüfen, jedoch hat sich in der Entscheidungspraxis des Europäischen Patentamts (EPA) bei der Prüfung seit langem ein „Zwei-Hürden-Ansatz″ (Two Hurdle Approach) herausgebildet. Der „Zwei-Hürden-Ansatz″ legt den Fokus auf zwei Hürden, die bei der Patenterteilung im Zusammenhang mit Software überwunden werden müssen:
- Erste Hürde: Software als solche ist als intellektuelle Leistung dem urheberrechtlichen Schutz zugänglich, aber nicht patentfähig, da dieser die notwendige Technizität fehlt (Art. 52 (2) lit. c EPÜ). Diese Hürde kann nach der Entscheidungspraxis des EPA gleichwohl leicht überwunden werden, indem mindestens ein technisches Merkmal in den Anspruch aufgenommen wird. Es reicht daher bspw. aus, wenn ein „computerimplementiertes″ Verfahren beansprucht wird („any technical means″ oder „any hardware″ Ansatz).
- Zweite Hürde: Die Patenterteilung setzt eine „erfinderische Tätigkeit″ (Art. 56 EPÜ) voraus. Um diese zweite Hürde zu überwinden, bedarf es eines (technischen) Merkmals, das zur Lösung eines technischen Problems beiträgt und für den Fachmann nicht naheliegend ist. Die bloße Verwendung eines Computers (zum Ausführen der Software) reicht zur Überwindung dieser Hürde nie aus, da diese Form der Computernutzung naheliegend ist.
Die Entscheidung der großen Beschwerdekammer bekräftigt die weitere Gültigkeit des „Zwei-Hürden-Ansatzes″. Dieser ist auch für Computersimulationen heranzuziehen. Zugleich konkretisiert die Kammer, welche Anforderungen an eine „erfinderische Tätigkeit″ bei computerimplementierten Erfindungen zu stellen sind.
Direkte technische Wirkungen versus potentielle technische Wirkungen
Die „erfinderische Tätigkeit″ muss einen technischen Beitrag zur Lösung eines technischen Problems leisten. Im Fall von computerimplementierten Erfindungen wird dies häufig durch eine direkte Verbindung mit der physischen Realität bewirkt. Der Anspruch umfasst dann oft einen Schritt, der eine Vorrichtung in der realen Welt steuert (z.B. ein Röntgengerät) oder von dort Daten empfängt (z.B. ein Sensor eines selbstfahrenden Autos). Bei vielen Arten von computerimplementierten Erfindungen mangelt es jedoch an einer physischen Vorrichtung, die gesteuert wird oder zu der eine Verbindung besteht. Die Notwendigkeit einer direkten Verbindung mit der physischen Realität würde also viele computerimplementierte Erfindungen vom Patentschutz ausschließen.
Die große Beschwerdekammer stellt nun fest, dass es für die Patentfähigkeit nicht zwingend einer direkten Verbindung mit der physischen Realität bedarf. Eine solche Verbindung reiche zwar aus, um Technizität zu begründen, sei jedoch – so die große Beschwerdekammer – „nicht in jedem Fall erforderlich″. Bei der Bewertung des notwendigen Beitrags zur Lösung eines technischen Problems unterscheidet die Kammer zwischen „per se technischen″ und „per se nicht technischen″ Merkmalen, die zur technischen Lösung beitragen oder nicht beitragen. „Per se nicht technische″ Merkmale können ebenso wie „per se technische″ Merkmal zur Lösung des technischen Problems beitragen.
Die möglichen Kombinationen und Ergebnisse bei der Prüfung der „erfinderischen Tätigkeit″ lassen sich wie folgt veranschaulichen:
per se technisches Merkmal | per se nicht technisches Merkmal | |
…leistet Beitrag zur technischen Problemlösung | (✓) Patentfähigkeit möglich. Potentielle technische Wirkung kann ausreichen. | (✓) Patentfähigkeit möglich. Potentielle technische Wirkung kann ausreichen. |
…leistet keinen Beitrag zur technischen Problemlösung | ❌ | ❌ |
Erstrecken der technischen Wirkung auf den gesamten Anspruch
Die Anzahl von computerimplementierten Erfindungen „mit (potentiellen) technischen Wirkungen“ ist groß. Hierunter können beispielsweise bestimmte Bildverarbeitungsverfahren, Suchverfahren mittels des Erstellens von Indexdateien oder die Druckersteuersignale aus einem Textverarbeitungssystem fallen. Kein patentrechtlicher Schutz kann jedoch beansprucht werden, sofern es an einem Beitrag zur Lösung eines technischen Problems fehlt (zweite Zeile der vorstehenden Tabelle). Beispielhaft führte die Große Beschwerdekammer dazu eine Simulation an, die die Bewegung einer Billardkugel simuliert. Durch solche Computerspiele wird keine technische Aufgabe löst.
Weiterhin bekräftigt die große Beschwerdekammer die ständige Rechtsprechung, nach der sich die technische Wirkung auf den gesamten Anspruch erstrecken muss. Tritt die technische Wirkung nur in einem Teilbereich auf, löst der Anspruch nicht die auf dem technischen Effekt beruhende Aufgabe, sondern nur eine allgemeinere Aufgabe. Da alles, was unter einen Anspruch fällt, erfinderisch sein muss, reicht dies nicht aus. Fehlt es an einer technischen Wirkung für den gesamten Anspruch, ist es erforderlich, den Anspruch zu beschränken. Beispielsweise kann es notwendig sein, Details zur Implementierung in ein Computersystem (die zu einem technischen Effekt führen) als Beschränkung in den Anspruch aufzunehmen.
Hürden für Softwarepatente gesenkt
Der „Zwei-Hürden-Ansatz″ ist auch bei computerimplementierten Simulationen anwendbar. Für die Praxis bedeutet dies, dass alle Patentanmeldungen auf dem Gebiet der Software nach diesem Ansatz zu prüfen sind. Einer direkten technischen Wirkung auf die physische Realität bedarf es hierzu nicht zwingend. Auch ein „potentieller technischer Effekt″ kann ausreichen.
Im Einklang mit der bisherigen Entscheidungspraxis kann es zudem genügen, wenn sich der technische Effekt lediglich auf die Computerimplementierung bezieht, bspw. indem Verbesserungen bei der Übertragung oder Speicherung von Daten erzielt werden.