Eine Massenentlassungsanzeige ohne die „Soll-Angaben“ aus § 17 Abs. 3 S. 5 KSchG führt nach Auffassung des LAG Hessen zur Unwirksamkeit der Kündigungen.
Das Konsultations- und Anzeigeverfahren im Zusammenhang mit Massenentlassungen kommt in § 17 KSchG allenfalls auf den ersten Blick unscheinbar daher. Durch die mitunter überraschende Rechtsprechung haben sich in der Zwischenzeit indes zahlreiche Stolperfallen herauskristallisiert. Der maßgebliche Betriebsbegriff und die zuständige Agentur für Arbeit, der richtige Konsultationspartner oder der entscheidende Zeitpunkt für die Unterschrift unter die Entlassung sind nur einige Beispiele.
Aus dem Urteil des LAG Hessen (Urteil v. 25. Juni 2021 – 14 Sa 1225/20) können weitere Risiken für laufende Kündigungsschutzprozesse und weitere formelle Anforderungen an die Massenentlassung für künftige Restrukturierungen folgen.
Massenentlassungsanzeige erfolgte zunächst nur mit den Muss-Angaben
Die Arbeitgeberin sprach im Zeitraum zwischen dem 18. Juni 2019 und dem 18. Juli 2019 gegenüber 17 von i.d.R. 21 im Betrieb beschäftigten Arbeitnehmern* eine betriebsbedingte Kündigung aus. Somit handelte es sich um eine Massenentlassung i.S.d. § 17 KSchG. Die Arbeitgeberin erstattete wohl – das Gericht traf hierzu keine Feststellung – am 18. Juni 2019 gegenüber der Agentur für Arbeit die Massenentlassungsanzeige. Dabei beschränkte sich der Inhalt der Anzeige auf die sog. Muss-Angaben. Nach § 17 Abs. 3 S. 4 KSchG sind dies Angaben über
- den Namen des Arbeitgebers,
- den Sitz und die Art des Betriebes,
- die Gründe für die geplanten Entlassungen,
- die Zahl und die Berufsgruppen der zu entlassenden und der i.d.R. beschäftigten Arbeitnehmer,
- den Zeitraum, in dem die Entlassungen vorgenommen werden sollen, und
- die vorgesehenen Kriterien für die Auswahl der zu entlassenden Arbeitnehmer.
Soll-Angaben wurden nach Ausspruch der Kündigung nachgereicht
Am Tag darauf gingen die Kündigungsschreiben zu, auch dem schließlich klagendem Arbeitnehmer. Am 23. Juli 2019 hat die Arbeitgeberin schließlich die sog. Soll-Angaben an die Agentur für Arbeit übersandt. Nach § 17 Abs. 3 S. 5 KSchG handelt es sich um Angaben über
- Geschlecht,
- Alter,
- Beruf und
- Staatsangehörigkeit
der zu entlassenden Arbeitnehmer.
Im Rahmen des Kündigungsschutzprozesses machte der Kläger geltend, die Massenentlassungsanzeige sei fehlerhaft und die Kündigung damit unwirksam. Der Fehler habe darin gelegen, dass die Anzeige vor Ausspruch der Kündigung die Soll-Angaben nicht enthalten hat. Das Arbeitsgericht wie auch das Landesarbeitsgericht gaben dem Kläger Recht.
Unionsrecht gibt Inhalt der Massenentlassungsanzeige vor
Die Anforderungen an das Konsultations- und Anzeigeverfahren werden durch die Richtlinie 98/59/EG des Rates vom 10. Juni 1998 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Massenentlassungen (Massenentlassungsrichtlinie oder MERL) vorgegeben. Diese Vorgaben werden durch § 17 KSchG umgesetzt.
Der Inhalt der Informationspflicht gegenüber dem zuständigen Betriebsrat aus § 17 Abs. 2 KSchG entspricht 1:1 den Vorgaben aus Art. 2 Abs. 3 MERL. Nach Art. 3 Abs. 1 (3) MERL muss die gegenüber der Agentur für Arbeit zu erstattende Massenentlassungsanzeige
alle zweckdienlichen Angaben über die beabsichtigte Massenentlassung und die Konsultationen der Arbeitnehmervertreter gemäß Artikel 2 enthalten, insbesondere die Gründe der Entlassung, die Zahl der zu entlassenden Arbeitnehmer, die Zahl der in der Regel beschäftigten Arbeitnehmer und den Zeitraum, in dem die Entlassungen vorgenommen werden sollen.
Der Katalog der erforderlichen Angaben ist damit nicht abschließend vorgegeben.
Nach Art. 6 MERL haben die Mitgliedstaaten dafür zu sorgen,
dass den Arbeitnehmervertretern und/oder den Arbeitnehmern administrative und/oder gerichtliche Verfahren zur Durchsetzung der Verpflichtungen gemäß dieser Richtlinie zur Verfügung stehen.
In der Folge hat das BAG bislang entschieden, dass Fehler im Konsultations- und Anzeigeverfahren zur Unwirksamkeit der Massenentlassungsanzeige führen und alle davon erfassten Entlassungen aufgrund eines Verstoßes gegen ein gesetzliches (Kündigungs-)Verbot nach § 134 BGB unwirksam seien. Bezüglich des Inhalts der Massenentlassungsanzeige beschränkte sich die Rechtsprechung des BAG bislang auf die Muss-Angaben.
Soll-Angaben werden (vorerst) faktisch zu Pflichtangaben
Das LAG Hessen griff die bisherige Rechtsprechung des BAG zu den Muss-Angaben sowie die Vorgaben der MERL auf. Enthält die Massenentlassungsanzeige nicht auch sämtliche Soll-Angaben, führe dies grundsätzlich ebenso zur Unwirksamkeit der Entlassung. Das Gericht argumentierte dabei wie folgt:
Die Soll-Angaben seien zweckdienliche Angaben i.S.v. Art. 3 Abs. 1 (3) MERL. Denn sie würden die Vermittlungsbemühungen der Agentur für Arbeit erleichtern. Anders als § 17 KSchG unterscheide die MERL nicht zwischen Muss- und Soll-Angaben. Für eine effektive Umsetzung des Unionsrechts und unter Berücksichtigung von Art. 6 MERL sei es im Ergebnis erforderlich, Verstöße gegen die Anzeigepflichten zu sanktionieren. Die Differenzierung aus dem gesetzlichen Wortlaut zwischen den Muss-Angaben und „bloßen“ Soll-Angaben führe im Ergebnis nicht zu einer Differenzierung bei den Fehlerfolgen. Die Unterscheidung trüge allein dem Umstand Rechnung, dass dem Arbeitgeber die Soll-Angaben – anders als die Muss-Angaben – nicht zwingend bekannt sind (z.B. die Nationalität der Arbeitnehmer). Das LAG Hessen geht hier so weit, den Arbeitgebern auch Nachforschungen zuzumuten. Nur soweit dem Arbeitgeber die Mitteilung der Angaben nicht möglich sei, würde die Unvollständigkeit der Anzeige nicht zur Unwirksamkeit der Kündigungen führen. Dieser Auslegung stünde auch der Wille des Gesetzgebers nicht entgegen.
Das Gericht hat seine Entscheidung ausführlich und letztlich auch nachvollziehbar begründet. Gleichwohl ist das Urteil überraschend. Denn bislang entsprach es der herrschenden Meinung in der juristischen Literatur und auch in der Rechtsprechung, dass die Massenentlassungsanzeige sich auf die Muss-Angaben beschränken kann. So hat das LAG Düsseldorf dies zuletzt nur knapp mit einem Satz festgestellt (LAG Düsseldorf, Urteil v. 5. Dezember 2019 – 13 Sa 622/18).
Das BAG äußerte sich zu dieser – eigentlich naheliegenden – Fragestellung bislang nicht. Die Bundesagentur für Arbeit hat sich hieran ausgerichtet und in den zur Verfügung gestellten Formblättern explizit zur Wahl gestellt, die Vermittlungsangaben nachzureichen. Danach sind die Soll-Angaben nicht zwingend der Anzeige beizufügen.
Für Juristen mag es noch nachvollziehbar sein, dass Auskünfte und Rechtsansichten der Agentur für Arbeit (z.B. zur Vollständigkeit der Anzeige, zur eigenen örtlichen Zuständigkeit) keine rechtliche Bindungswirkung haben und nur der Gesetzgeber die rechtlichen Maßstäbe festlegen und die Rechtsprechung diese durch Auslegung konkretisieren kann. Für die Praxis, die sich auf die zur Verfügung gestellten Formulare verlassen hat, ist das jedoch misslich. Dies gilt umso mehr, als die Rechtsprechung grds. keinen Vertrauensschutz gewährt. Vertrauensschutz kommt bspw. bei einer Änderung der höchstrichterlichen Rechtsprechung in Betracht. Im Übrigen obliegt es bei unionsrechtsgeprägten Auslegungsfragen – wie hier – dem Europäischen Gerichtshof, ausnahmsweise Vertrauensschutz zu gewähren.
Sorgfältige Vorbereitung des Konsultations- und Anzeigeverfahrens essenziell
Das LAG Hessen hat die Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtsfrage zugelassen. Wie das BAG entscheiden wird, ist letztlich offen. Es ist jedoch nicht unwahrscheinlich, dass das BAG das Urteil des LAG Hessen bestätigt. So hat das BAG im Rahmen der „Air Berlin“-Entscheidung bereits klargestellt, dass die Anzeigepflicht allein dem Arbeitgeber obliegt und auch die Meldung der Arbeitnehmer als arbeitsuchend nach § 38 SGB III den Arbeitgeber hiervon nicht entbinde (BAG, Urteil v. 14. Mai 2020 – 6 AZR 235/19). Möglich bliebe aber eine Unterscheidung auf der Rechtsfolgenseite. So ließe sich im Hinblick auf die Soll-Angaben argumentieren, dass aufgrund der erforderlichen Arbeitsuchendmeldung die Sanktionierung des Arbeitgebers mit der Unwirksamkeit der Massenentlassungsanzeige zur effektiven Umsetzung des Unionsrechts nicht erforderlich ist (Art. 6 MERL).
Nichtsdestotrotz müssen Arbeitgeber schon jetzt sicherheitshalber stets auch die Soll-Angaben vor Ausspruch der Kündigungen bzw. vor Abschluss von Aufhebungsverträgen der Agentur für Arbeit mitteilen. Das zeigt einmal mehr die Notwendigkeit der sorgfältigen Vorbereitung des Anzeigeprozesses. Im Zusammenhang mit der Vorbereitung der Sozialauswahl und der Zusammenstellung des Informationspaketes nach § 17 Abs. 2 KSchG für den Betriebsrat ließen sich alle erforderlichen Mitarbeiterdaten erfassen. Der Mehraufwand dürfte überschaubar sein. Die meisten Daten sind dem Arbeitgeber ohnehin bekannt, sodass keine weiteren Nachforschungen erforderlich werden dürften. Eine Ausnahme ist hierbei wohl aber die Nationalität der Arbeitnehmer. Diese ließe sich z.B. durch Befragung der betroffenen Arbeitnehmer parallel zur Anhörung des Betriebsrates ermitteln. Antwortet der Arbeitnehmer nicht, müsste dies für die Wirksamkeit der Anzeige unschädlich sein. Unabhängig davon ist die Staatsangehörigkeit nach unserer Bewertung nicht zweckdienlich für die Arbeitsvermittlung, sondern zeugt vielmehr von einem veralteten Weltbild des Gesetzgebers.
UPDATE #1: Soll-Angaben i.S.d. § 17 Abs. 3 S. 5 KSchG für die Wirksamkeit der Massenentlassungsanzeige irrelevant
Das LAG Düsseldorf kommt – entgegen der aufsehenerregenden und oben besprochenen Entscheidung des LAG Hessen – zu dem Ergebnis, dass die Soll-Angaben i.S.d. § 17 Abs. 3 S. 5 KSchG für die Wirksamkeit der Massenentlassungsanzeige irrelevant sind.
In der nunmehr veröffentlichten Entscheidung des LAG Düsseldorf (Urteil v. 15. Dezember 2021 – 12 Sa 349/21) hatte das Gericht über die Wirksamkeit einer Kündigung im Zuge einer Betriebsstilllegung zu befinden. Unstreitig hatte die Arbeitgeberin die sog. Soll-Angaben – wie in den Formularen der Agentur für Arbeit vorgesehen – erst nach Zugang der Kündigung nachgereicht.
Das LAG Düsseldorf kommt jedoch zu dem überzeugenden Ergebnis, dass die Soll-Angaben nicht für die Wirksamkeit der Massenentlassungsanzeige erforderlich sind. Dabei setzt sich das Gericht ausführlich mit der jüngeren Rechtsprechung des BAG auseinander. Die Kammer bezieht sich ausdrücklich auf die Entscheidung des BAG v. 13. März 2020 (6 AZR146/19) und dessen Feststellung, dass die Unterscheidung in § 17 Abs. 3 S. 4 und 5 KSchG – d.h. zwischen den Muss- und den Soll-Angaben – den unionsrechtlichen Vorgaben aus der Massenentlassungsrichtlinie (MERL) genüge. Das gelte auch dann, wenn die MERL die Unterscheidung zwischen Muss- und Soll-Angaben nicht kenne und die Mitteilung aller „zweckdienlichen“ Angaben verlange sowie einzelne – in § 17 Abs. 3 Satz 4 KSchG als Muss-Angaben ausgestaltete – Punkte nenne, die „insbesondere“ anzugeben sind. Dies folge nach zutreffender Bewertung des LAG Düsseldorf daraus, dass die MERL
bei weitem zu ungenau ist, um einer Umsetzung der Richtlinie in nationales Recht, die nicht alle denkbaren für die Arbeitsvermittlung zweckdienlichen Angaben als „Muss-Angaben“ aufführt, die Richtlinienkonformität oder gar Wirksamkeit abzusprechen.
Als weitere zweckdienliche Auskünfte, die in Betracht kämen, nennt das Gericht beispielhaft eine Schwerbehinderung, Teilzeitbeschäftigung oder Schwangerschaft. Im Ergebnis verbleibe ein Umsetzungsspielraum, aus dem gerade nicht geschlussfolgert werden dürfe, dass alle denkbaren „zweckdienlichen Auskünfte“ Muss-Angaben seien. Eine effektive Umsetzung der Richtlinie sei durch die Muss-Angaben in § 17 Abs. 3 S. 3 KSchG gewährleistet, deren Missachtung zur Unwirksamkeit aller Kündigungen führt. Das Gericht konstatiert zudem nüchtern, dass der MERL im Übrigen „aufgrund ihrer eigenen Unbestimmtheit die Ineffektivität“ innewohne.
Die Praxis kann allerdings noch nicht endgültig aufatmen. Es bleibt die Entscheidung des BAG (2 AZR 424/21) über das beim LAG Hessen geführte Verfahren abzuwarten. Eine Klarstellung seitens des BAG kann bereits am 19. Mai 2022 erfolgen. Wir berichten sodann umgehend.
Ergänzend sei auf die knappe, aber erfreuliche Bewertung seitens des LAG Düsseldorf hingewiesen, wonach „unwesentliche Fehler“ bei den Angaben zu den i.d.R. beschäftigten Arbeitnehmern sowie den zu entlassenden Arbeitnehmern für die Wirksamkeit der Anzeige unschädlich sind. Im konkreten Fall wichen die Angaben der Arbeitgeberin (jeweils 163 beschäftigte und betroffene Arbeitnehmer) und die Darstellungen der Kläger (jeweils ca. 150) geringfügig voneinander ab. Das LAG Düsseldorf bestätigt auch noch einmal ausdrücklich, dass die Erstattung per Telefax vor Zugang der Kündigung dem Schriftformerfordernis aus § 17 Abs. 3 S. 2 KSchG genügt.
Update #2: Das Fehlen der sog. Soll-Angaben nach § 17 Abs. 3 Satz 5 KSchG führt für sich genommen nicht zur Unwirksamkeit einer Massenentlassungsanzeige des Arbeitgebers gegenüber der Agentur für Arbeit.
Mit Urteil vom 19. Mai 2022 (2 AZR 467/21 und 2 AZR 424/21) hat das BAG für diese langersehnte Klarstellung gesorgt. Die Urteilsgründe sind noch nicht veröffentlich. Die Pressemitteilung ist indes bereits sehr deutlich, sodass keine weiteren Überraschungen zu erwarten sind.
Das BAG kommt zu dem überzeugenden Ergebnis, dass der Wille des Gesetzgebers sich eindeutig aus § 17 KSchG ergebe. Der Gesetzgeber unterscheidet darin ausdrücklich zwischen den Muss- und den Soll-Angaben. Das BAG erteilt dem LAG Hessen durch die Blume auch einen Rüffel: Dieser eindeutige Wille des Gesetzgebers dürfe nicht durch die nationalen Gerichte im Wege einer richtlinienkonformen Auslegung übergangen werden, die hier auch nicht geboten war. Durch die Rechtsprechung des EuGH sei bereits geklärt, dass die Soll-Angaben aus § 17 Abs. 3 S. 5 KSchG nicht nach Maßgabe von Art. 4 Abs. 2 MERL erforderlich sind.
Das Urteil hat für die Praxis weitreichende Folgen. Das Anzeigeverfahren wird deutlich verschlankt. Insbesondere entfällt die mitunter zeitaufwändige Forschung nach den Berufsabschlüssen und Staatsangehörigkeiten aller betroffenen Arbeitnehmer in den Personalakten oder gar durch ergänzende Mitarbeiterbefragung.
Aus prozessualen Gründen hat das BAG die beiden anhängigen Verfahren an das LAG Hessen zurückverwiesen. Denn aufgrund der unzureichenden Sachverhaltsfeststellungen durch die Vorinstanzen konnte nicht beurteilt werden, ob die streitgegenständlichen Kündigungen überhaupt im Rahmen einer Massenentlassung erfolgt sind.
*Gemeint sind Beschäftigte jeder Geschlechtsidentität. Lediglich der leichteren Lesbarkeit halber wird künftig bei allen Bezeichnungen nur noch die grammatikalisch männliche Form verwendet.