12. Oktober 2020
Inanspruchnahme Entleiher Insolvenz Verleiher
Arbeitsrecht

Risiko der doppelten Inanspruchnahme des Entleihers bei erlaubter Arbeitnehmerüberlassung

Wer Zeitarbeitnehmer einsetzt, muss wissen, dass er bei Insolvenz des Verleihers die Sozialversicherungsbeiträge womöglich ein zweites Mal abführen muss.

Bei der erlaubten Arbeitnehmerüberlassung haftet der Entleiher für die Sozialversicherungsbeiträge, die auf die ihm überlassenen Arbeitnehmer* und den Überlassungszeitraum entfallen, wie ein selbstschuldnerischer Bürge, obwohl nicht er, sondern der Verleiher deren Arbeitgeber ist (§ 28e Abs. 2 S. 1 SGB IV).

Arbeitnehmerüberlassungsverträge sehen vor dem Hintergrund dieser Einstandspflicht zuweilen vor, dass der Entleiher nur einen bestimmten Teil der Vergütung (in dem vorliegenden Fall: 70 %) an den Verleiher und die restlichen 30 % unmittelbar an die Krankenkasse als zentrale Einzugsstelle für die Sozialversicherungsbeträge (§§ 28h Abs. 1 S. 3, 28i SGB IV) zahlt. Hierdurch soll erreicht werden, dass der Anspruch der Einzugsstelle auf Abführung der Sozialversicherungsbeiträge erfüllt wird, der Entleiher sich also sicher sein kann, dass er in der Zukunft nicht als Bürge für diese in Anspruch genommen wird.

Während der vorläufigen Insolvenzverwaltung: Verleiher hat gegenüber Entleiher einen „Befreiungsanspruch″ auf Freistellung über Verbindlichkeiten gegenüber der Krankenkasse

Das OLG Koblenz hatte zu entscheiden, welches Schicksal eine solche Vereinbarung über eine Direktzahlung an die zentrale Einzugsstelle hat, wenn über das Vermögen des Verleihers das Insolvenzverfahren eröffnet wird (Urteil v. 9. Juni 2020 – 3 U 762/19).

Der klagende Insolvenzverwalter war der Ansicht, dass er die Zahlungen an die Krankenkasse nicht gegen sich gelten lassen müsse. Richtigerweise, so meinte er, hätte die Vereinbarung über die Direktzahlung ihre Wirkung verloren, so dass die Vergütung an die Insolvenzmasse des Verleihers gezahlt werden müsse. Die Krankenkasse müsse ihre Beitragsforderungen zur Insolvenztabelle anmelden und erhalte – wie alle anderen Gläubiger auch – die Insolvenzquote. Der beklagte Entleiher war anderer Auffassung, weil er befürchtete, eine Doppelzahlung leisten zu müssen: 100 % der Vergütung an die Insolvenzmasse des Verleihers und anschließend noch einmal an die Krankenkasse aufgrund seiner Bürgenhaftung.

Das OLG Koblenz differenzierte zwischen dem Zeitraum der vorläufigen Insolvenzverwaltung und der Zeit nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens: In der Vereinbarung zwischen dem Verleiher und dem Entleiher liege eine Erfüllungsübernahme (§ 329 BGB). Indem Letztgenannter sich im Arbeitnehmerüberlassungsvertrag verpflichtet habe, 30 % der Vergütung unmittelbar an die Krankenkasse zu zahlen, habe sich der Entleiher verpflichtet, die Verbindlichkeit des Verleihers bei der Krankenkasse zu befriedigen.

Dies ergebe eine Auslegung der Vereinbarung unter Berücksichtigung der Interessen der Parteien: Der Verleiher habe ein Interesse daran besessen, von seiner Verpflichtung gegenüber der Krankenkasse frei zu werden; der Entleiher sei daran interessiert gewesen, seine Bürgenhaftung gegenüber der Krankenkasse zu vermeiden. Rechtsfolge der Erfüllungsübernahme sei, dass der Verleiher gegenüber dem Entleiher einen „Befreiungsanspruch″ habe, nämlich einen Anspruch darauf, dass der Entleiher ihn von seinen Verbindlichkeiten gegenüber der Krankenkasse freistelle.

An dieser rechtlichen Konstruktion ändere sich durch die Bestellung des „starken″ vorläufigen Insolvenzverwalters nichts. Dieser habe das Unternehmen fortzuführen (§ 22 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 Halbs. 2 InsO) und trete in die bestehenden Verträge ein. Eine Kündigung des Arbeitnehmerüberlassungsvertrags sei im vorliegenden Fall auch nicht erfolgt. Deshalb dürfe der Entleiher auch während der vorläufigen Insolvenzverwaltung 30 % der Vergütung unmittelbar an die Krankenkasse zahlen.

Nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens: Entleiher schuldet Zahlung an die Insolvenzmasse

Anders sei dies jedoch für die Zeit nach Insolvenzeröffnung. Durch diese wandle sich der „Befreiungsanspruch″ wegen § 35 Abs. 1 InsO in einen Zahlungsanspruch um, so dass der Entleiher in Höhe des 30%igen Anteils der Vergütung fortan nicht mehr Freistellung, sondern die Zahlung an die Insolvenzmasse schulde.

Dies gelte gem. § 82 S. 1 InsO allerdings erst von dem Zeitpunkt an, ab dem der Entleiher von der Insolvenzeröffnung Kenntnis erlange. Erbringe er zwischen Insolvenzeröffnung und Kenntniserlangung noch eine Zahlung an die Krankenkasse, müsse er diesen Betrag nicht noch einmal an die Insolvenzmasse des Verleihers zahlen.

Schutz vor doppelter Inanspruchnahme kann Bankbürgschaft sein

Die Entscheidung verdeutlicht, dass die in Arbeitnehmerüberlassungsverträgen verwendete Klausel über die Direktzahlung eines Teils der Vergütung an die Krankenkasse im Insolvenzfall zu einem bösen Erwachen beim Entleiher führen kann. Denn, was er mit der Regelung vermeiden möchte, nämlich das Risiko einer Doppelzahlung an Verleiher und Krankenkasse, lässt sich für die Zeit nach Insolvenzeröffnung – zumindest nach Kenntnis davon – nicht vermeiden.

Zudem ist zu beachten, dass die im vorliegenden Fall relevante Erfüllungsübernahme hinsichtlich der rechtlichen Zulässigkeit durchaus kritisch gesehen wird (vgl. Schüren/Hamann, AÜG, Einl. Rn. 777 m.w.N. – auch auf die insoweit ergangene Rspr. des BGH, die nach Ansicht des OLG Koblenz jedoch aufgrund einer abweichenden Sachverhaltsgestaltung in dem hiesigen Fall nicht einschlägig gewesen sein soll, vgl. BGH, Urteil v. 2. Dezember 2004 – IX ZR 200/03; BGH, Urteil v. 14. Juli 2005 – IX ZR 142/02).

Wegen §§ 103, 119 InsO kann der Entleiher den Arbeitnehmerüberlassungsvertrag nicht allein unter Hinweis auf die Insolvenzeröffnung kündigen, weil das Wahlrecht darüber, ob dieser fortgesetzt werden soll oder nicht, dem Insolvenzverwalter zusteht. Ein (ordentliches) Kündigungsrecht kann der Entleiher nur ausüben, soweit der Arbeitnehmerüberlassungsvertrag selbst ein solches vorsieht; ggf. kommt auch eine fristlose Kündigung in Betracht, z.B. wenn der Insolvenzverwalter gegen Regelungen des Arbeitnehmerüberlassungsvertrages verstößt.

Außerdem kann der Entleiher in Höhe des Betrags, den die Krankenkasse später von ihm verlangen wird, auch kein Zurückbehaltungsrecht an der von ihm geschuldeten Vergütung geltend machen (§ 273 BGB), weil ein solches in der Insolvenz wirkungslos ist (BGH, Urteil v. 7. März 2002 – IX ZR 457/99). Das einzige wirksame Mittel gegen eine doppelte Inanspruchnahme ist, dass sich der Entleiher von dem Verleiher eine Bankbürgschaft geben lässt. Diese sind aber in der Praxis – insbesondere vom Verleiher – wenig geschätzt, da diese u.a. mit nicht unerheblichen Kosten verbunden sind.

Revision zugelassen: Rechtsfragen zum Risiko doppelter Inanspruchnahme des Entleihers ungeklärt

Im Ergebnis lässt sich festhalten, dass die Direktabführung von Sozialversicherungsbeiträgen an die Krankenkasse wohl rechtlich zulässig ist, jedoch praktisch (dennoch) nur eine geringe Verbreitung findet. Neben dem damit verbundenen erhöhten administrativen Aufwand für den Entleiher dürfte ein Grund dafür in der weiterhin bestehenden Rechtsunsicherheit bzgl. der Wirksamkeit derartiger Vereinbarungen sowie in dem nicht ausschließbaren Haftungsrisiko im Insolvenzfall des Verleihers zu sehen sein.

Das OLG Koblenz hat die Revision gem. § 543 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 ZPO wegen grundsätzlicher Bedeutung zuzulassen. Diese ergibt sich aus den entscheidungserheblichen Fragestellungen, ob das Risiko doppelter Inanspruchnahme des Entleihers dadurch vermieden werden kann, dass diesem vertraglich das Recht eingeräumt wird, mit schuldbefreiender Wirkung gegenüber dem Verleiher unmittelbar an den Sozialversicherungsträger zu leisten sowie, falls ja, ob dies auch für Zahlungen nach Insolvenzeröffnung bzw. nach Kenntnis von der Insolvenzeröffnung gilt.

Diese Fragen können sich über den Einzelfall hinaus in einer unbestimmten Vielzahl von Fällen im Bereich der wirksamen Arbeitnehmerüberlassung stellen. Diese sind in der Literatur umstritten und höchstrichterlich bislang nicht geklärt.

Weitere Einzelheiten dazu entnehmen Sie dabei bitte unserem „Infobrief Zeitarbeit″, in dem wir jeden Monat über aktuelle Entwicklungen in Zusammenhang mit dem Einsatz von Fremdpersonal informieren. Sollten Sie Interesse haben, diesen kostenfrei zu beziehen, schreiben Sie uns bitte eine kurze E-Mail (alexander.bissels@cms-hs.com oder kira.falter@cms-hs.com).

*Gemeint sind Beschäftigte jeder Geschlechtsidentität. Lediglich der leichteren Lesbarkeit halber wird künftig bei allen Bezeichnungen nur noch die grammatikalisch männliche Form verwendet.

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