20. Oktober 2011
Kartellrecht

Der Golem lebt? – Kollektivklagen im Kartellrecht

„Einmal hatte er es vergessen,
Einmal, was ist da geschehen:
Rasend wurde, dwatsch, der Golem,
ein Berserker ward der Kerl.″
(Detlev von Liliencron, 1844 – 1909, Der Golem).

In Europa wird kontrovers diskutiert, ob der kollektive Rechtsschutz im Kartellrecht (und in anderen Rechtsgebieten) gefördert werden sollte oder ob dadurch die Einführung eines Monsters droht, wie es in der Class Action des US-amerikanischen Rechts gesehen wird, das die Rechtsordnungen der EU-Mitgliedstaaten wie ein Berserker heimsuchen würde. Die Diskussion innerhalb der Organe der Europäischen Union ist noch nicht abgeschlossen, eine Entscheidung ist noch nicht getroffen. Voraussichtlich am 22.11.2011 wird der Rechtsausschuss des Europäischen Parlaments über die Annahme des Berichts über das Thema „Kollektiver Rechtsschutz: hin zu einem kohärenten europäischen Ansatz″ entscheiden.

Rückblick

Zur Erinnerung: Die Generaldirektion Wettbewerb der Europäischen Kommission hatte in der Vergangenheit den Versuch unternommen, den kollektiven Rechtsschutz im Kartellrecht zu fördern. Sie wurde bei diesem Vorstoß, der sich in zwei Richtlinienentwürfen konkretisiert hatte, ausgebremst. Die Richtlinienentwürfe verschwanden wieder in den Schubladen, die sie niemals offiziell verlassen hatten. Anfang des Jahres 2011 hatte die Europäische Kommission zur Zusammenführung der Aktivitäten verschiedener Generaldirektionen, insbesondere derer für Wettbewerb (COMP) und für Gesundheit und Verbraucher (SANCO) eine Konsultation zu einem kohärenten europäischen Ansatz beim kollektiven Rechtsschutz eingeleitet (wir berichteten). Diese war bis 30.04.2011 abgeschlossen worden (auch CMS hat Stellung genommen). Auf Ebene der EU-Mitgliedstaaten bestehen zum Teil schon Regelungen zum kollektiven Rechtsschutz. Das deutsche Recht kannte schon immer eine auf Unterlassung gerichtete Verbandsklage. 2005 war den Wirtschaftsverbänden die Klagebefugnis für eine (gegenüber einem Tätigwerden der Behörde subsidiäre) Vorteilsabschöpfung eingeräumt worden. Diese Klagebefugnis soll nach den seit Anfang August 2011 vorliegenden Eckpunkten für die 8. GWB-Novelle auf Verbraucherschutzverbände und Verbände der Marktgegenseite ausgedehnt werden.

Das Problem

Der Stein des Weisen auf der Suche nach einem wirksamen und kosteneffizienten Instrument des kollektiven Rechtsschutzes, bei dem zugleich die Gefahr missbräuchlicher Klagen ausgeschlossen ist, ist noch nicht gefunden. Die Materie ist schwierig. Jeder Normgebungsversuch auf diesem Gebiet muss sich mit den folgenden drei wesentlichen Problemen auseinander setzen (Vgl. zum Nachstehenden ausführlich mein Beitrag in Möschel/Bien (Hrsg.) „Kartellrechtsdurchsetzung durch private Schadensersatzklagen?″, S. 71 ff., Nomos, Baden-Baden 2010):

  • Die – von Ökonomen so genannte – rationale Apathie der Geschädigten muss überwunden werden. Gerade Kartellrechtsverstöße führen oft dazu, dass bei einer Vielzahl von Betroffenen nur sehr geringfügige Schäden eintreten. Den Geschädigten fehlt dann der Anreiz, den Aufwand und die Risiken eines Rechtsstreits zur Durchsetzung von Schadensersatzansprüchen auf sich zu nehmen. Die Geschädigten werden dies nur bei Setzung geeigneter Anreize machen. Denkbare Anreize sind eine Vervielfachung des Schadensersatzes („treble damages″), asymmetrische Kostentragungsregelungen, etc. Dabei dürfen die Klageanreize aber nicht so stark sein, dass missbräuchliche Klagen erhoben werden.
  • Die Bündelung von Ansprüchen bzw. Klageverfahren einzelner zu einer Kollektivklage dient der Erreichung von Kosteneinsparungen. Die Bündelung impliziert jedoch, dass für die einzelnen Geschädigten ein Vertreter, z. B. – nach weit verbreiteten Vorstellungen – ein Verband bzw. eine qualifizierte Einrichtung tätig wird. Aus dieser Personenverschiedenheit von Anspruchsinhaber und Vertreter ergeben sich weitere Probleme, die von Ökonomen unter der Bezeichnung „agency problem″ zusammengefasst werden und darauf zurückgehen, dass die verfolgten Interessen nicht zwangsläufig die gleichen sind.
  • Wie jeder Prozess setzt auch eine Kollektivklage voraus, dass eine Investition in die Rechtsdurchsetzung stattfindet (Gerichtskostenvorschuss, Anwaltshonorar, Zeitaufwand). Es ist jedoch sehr schwer, wenn nicht unmöglich, die Finanzierung von Kollektivklagen sicher zu stellen, ohne die falschen Anreize zu setzen. Oft wird eine staatliche Finanzierung als geeignete Lösung für dieses Problem angesehen. Sie wirft jedoch die Frage auf, wieso Steuergelder dafür eingesetzt werden sollen, dass eine bestimmte von der Allgemeinheit verschiedene Gruppe, nämlich die von einem Kartellrechtsverstoß Geschädigten, eine Entschädigung bekommt. Würde man das Ziel des kollektiven Rechtsschutzes im Kartellrecht allein darin sehen, die Abschreckung zu erhöhen, so würde sich die Frage stellen, ob es nicht vorzugswürdigere, weil effizientere Mittel als den kollektiven Rechtsschutz gibt.

Auf welchem Weg ist Europa?

In seinem Entwurf eines Berichts für den Rechtsausschuss vom 15.07.2011 hält der Berichterstatter Klaus-Heiner Lehne folgende Eckpunkte für ein Instrument des kollektiven Rechtsschutzes fest:

  • So soll es keine für das Kartellrecht beschränkte Regelung geben, sondern ein sogenanntes „horizontales Instrument″ für sämtliche Bereiche des Rechts.
  • Es soll nur Verbandsklagen nach dem sogenannten Opt-In-Prinzip geben, nicht aber nach dem Opt-Out-Prinzip, dem die US-amerikanische Class Action folgt.
  • Die Kollektivklage darf nur auf Ersatz des tatsächlichen Schadens gerichtet sein. Ein Strafschadensersatz soll ausgeschlossen sein.
  • Es muss bei der „loser pays″-Regelung für die Tragung der Prozesskosten bleiben.
  • Eine „Finanzierung kollektiver Forderungen″ wird abgelehnt. Marktmechanismen sollen nicht darüber entscheiden dürfen, ob eine Klage erhoben werden kann oder nicht. Stattdessen soll eine Finanzierung aus dem Staatshaushalt erwogen werden. Der klagende Verband darf nicht an dem Erstrittenen beteiligt werden.

In Anbetracht der oben geschilderten Probleme jeder Regelung im kollektiven Rechtsschutz dürfte ein Instrument, das den im Berichtsentwurf beschriebenen Voraussetzungen entspricht, ein Papiertiger bleiben.

Durch die Änderungsanträge der Mitglieder des Rechtsausschusses wurde die ein oder andere im Berichtsentwurf noch enthaltene Beschränkung relativiert. Dies gilt insbesondere für den kategorischen Ausschluss von Opt-Out-Instrumenten und eines möglichen Strafschadensersatzes.

Der Wettbewerbskommissar hat sich in einer Rede vor dem Ausschuss für Wirtschaft und Währung des Europäischen Parlaments am 22.09.2011 zu diesem Thema bedeckt gehalten und seine Überzeugung geäußert, dass ein ausgewogener Vorschlag gefunden werde.

Fazit

Die spannende Frage bleibt also weiterhin: Wird Europa einen Papiertiger gebären oder uns ein Class Action-Monster bescheren?

Übrigens: Bei dem Golem handelt es sich ursprünglich nicht um ein Monster, sondern der jüdischen Legende zufolge um einen aus Lehm geformten und durch Magie zum Leben erweckten Helfer. Die Fähigkeit, einen Golem zu schaffen, galt als Ausdruck höchster Gelehrsamkeit und Weisheit.

Tags: class action Golem Kartellrecht Kollektiver Rechtsschutz Kollektivklagen privater Rechtsschutz Verbandsklage