Die Restrukturierungs-Richtlinie ist in aller Munde. Wir zeigen, welche Auswirkungen sie auf das Arbeitsrecht hat.
Der vollständige Name lautet: Richtlinie (EU) 2019/1023 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Juni 2019 über präventive Restrukturierungsrahmen, über Entschuldung und über Tätigkeitsverbote sowie über Maßnahmen zur Steigerung der Effizienz von Restrukturierungs-, Insolvenz- und Entschuldungsverfahren und zur Änderung der Richtlinie (EU) 2017/1132.
Ende Juni wurde die Richtlinie im Amtsblatt der Europäischen Union veröffentlicht.
Insolvenzen sollen vermieden werden
Der europäische Gesetzgeber verfolgt mit der Richtlinie das Ziel, Unternehmensinsolvenzen vorzubeugen. Firmen, die zwar in finanziellen Schwierigkeiten stecken, aber noch überlebensfähig sind, sollen Zugang zu einem wirkungsvollen präventiven (also die Insolvenz abwendenden) Sanierungsverfahren erhalten. Letztlich dient dies auch dem Erhalt von Arbeitsplätzen, weil eine Insolvenz in aller Regel zu Entlassungen führt.
Mitgliedstaten müssen Richtlinie umsetzen
Die Richtlinie ist nicht unmittelbar anwendbar. Sie fordert vielmehr die Mitgliedstaaten auf, in ihrem nationalen Recht die Vorschriften zu schaffen, die erforderlich sind, um den Anforderungen der Richtlinie gerecht zu werden. Wie auch alle anderen Mitgliedstaaten muss Deutschland diese Vorschriften bis zum 17. Juli 2021 erlassen; von diesem Tag an müssen die Regelungen auch bereits anwendbar sein.
Alles dreht sich um den präventiven Restrukturierungsrahmen
Das Herzstück der Richtlinie ist der präventive Restrukturierungsrahmen. Unternehmen, die insolvenzgefährdet sind, sollen Luft zum Atmen erhalten, um einen Sanierungsversuch mit ihren Gläubigern zu unternehmen. Zu diesem Zweck soll die Geschäftsleitung zwar die Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis behalten; es soll also kein Insolvenzverwalter bestellt werden. Sofern erforderlich, soll das zuständige Gericht jedoch einen Restrukturierungsbeauftragten ernennen, der vor allem darüber wacht, dass die Interessen der Gläubiger gewahrt werden. In bestimmten Fällen ist die Bestellung eines Restrukturierungsbeauftragten zwingend (vgl. Art. 5 der Richtlinie).
Moratorium: Stopp von Zwangsvollstreckungsmaßnahmen
Damit einzelne Gläubiger Sanierungsbemühungen nicht torpedieren können, kann das Gericht anordnen, dass Zwangsvollstreckungsmaßnahmen gegen das Unternehmen ausgesetzt werden (Art. 6 der Richtlinie). Ein solches Moratorium ist allerdings bei Forderungen von Arbeitnehmern* nicht möglich, es sei denn, der jeweilige Mitgliedstaat stellt sicher, dass die Erfüllung solcher Forderungen auf einem vergleichbaren Schutzniveau garantiert ist (Art. 6 Abs. 5 der Richtlinie).
Deutschland beispielsweise könnte das Vollstreckungs-Moratorium auf Arbeitnehmer-Forderungen ausweiten, weil dann, wenn der Arbeitgeber die Gehaltszahlungen einstellt, die Arbeitnehmer Anspruch auf die Gleichwohlgewährung von Arbeitslosengeld (§ 157 SGB III) haben. Der Gesetzgeber müsste dann aber wohl bestimmen, dass die Zeit der Gleichwohlgewährung auf die maximale Anspruchsdauer für das Arbeitslosengeld (§ 148 SGB III) nicht angerechnet wird, weil sich andernfalls das Moratorium zu Lasten der Arbeitnehmer auswirkte und damit ggf. kein vergleichbares Schutzniveau mehr gewährleistet wäre.
Arbeitnehmer-Forderungen im Restrukturierungsplan
Ziel eines Sanierungsverfahrens ist die Erstellung eines Restrukturierungsplans, der alle Maßnahmen vorsehen kann, die dem Schuldner die Begleichung seiner Verbindlichkeiten erleichtern (z. B. Stundungen, Teil-Erlasse oder eben auch etwa Entlassungen, Kurzarbeitsregelungen oder ähnliche Maßnahmen). Dem Sanierungsplan muss eine Mehrheit der betroffenen Gläubiger zustimmen (Art. 9 der Richtlinie). Denkbar ist, dass eine Gläubiger-Gruppe eine andere überstimmt (Art. 11 der Richtlinie). In manchen Fällen, etwa wenn mehr als ein Viertel der Arbeitsplätze abgebaut werden soll, muss der Restrukturierungsplan auch von dem zuständigen Gericht genehmigt werden (Art. 10 der Richtlinie).
Wichtig für Verbindlichkeiten mit Bezug zum Arbeitsrecht ist: Die Mitgliedstaaten können vorsehen, dass Forderungen von Arbeitnehmern nicht Gegenstand eines Restrukturierungsplans sein können (Art. 1 Abs. 5 der Richtlinie). Keinesfalls angetastet werden dürfen erworbene Ansprüche auf eine betriebliche Altersversorgung (Art. 1 Abs. 6 der Richtlinie). Jedenfalls unverfallbare Anwartschaften auf Betriebsrenten müssen also allen Arbeitnehmern ungeschmälert erhalten bleiben.
Änderungen arbeitsvertraglicher Bedingungen
Sehr kryptisch formuliert ist Art. 13 Abs. 2 der Richtlinie: Er sieht vor, dass dann, wenn der Restrukturierungsplan Maßnahmen vorsieht, die Änderungen an der Arbeitsorganisation oder an den Arbeitsverträgen mit sich bringen, diese Maßnahmen von den Arbeitnehmern genehmigt werden, sofern das nationale Recht oder Tarifverträge in diesen Fällen eine solche Genehmigung vorsehen.
Nach deutschem Recht bedürfen Änderungen arbeitsvertraglicher Vereinbarungen im Grundsatz stets der Zustimmung der Arbeitnehmer, weil der Arbeitgeber solche (nachteiligen) Änderungen nicht einseitig vornehmen kann. Allerdings ist davon auszugehen, dass daneben weiterhin Änderungskündigungen nach § 2 KSchG möglich sind. Denn man kann nicht davon ausgehen, dass der europäische Gesetzgeber dieses Kündigungsrecht ausschließen wollte. Ein Restrukturierungsplan kann also und wird regelmäßig mit der Absicht verbunden werden, Gehaltsreduzierungen oder sonstige Maßnahmen zur Personalkostensenkung über einvernehmliche Regelungen oder Änderungskündigungen zu erreichen.
Für Änderungen an der Arbeitsorganisation bedarf es nach deutscher Rechtslage hingegen grundsätzlich gerade keiner Zustimmung von Mitarbeitern oder ihren Vertretern, sondern lediglich der Durchführung der Prozesse nach dem BetrVG. Art. 13 Abs. 2 der Richtlinie spielt insoweit keine Rolle.
Soweit Beendigungskündigungen unvermeidbar sind, ist aber weiter zu bedenken, dass etwa die Kündigungserleichterungen des § 113 InsO in einem Restrukturierungsverfahren nicht gelten, weil der Anwendungsbereich der insolvenzarbeitsrechtlichen Bestimmungen der §§ 113 bis 128 InsO auf Insolvenzverfahren beschränkt ist.
Neue Rechte der Arbeitnehmervertreter
Die Richtlinie verweist an mehreren Stellen auch auf das kollektive Arbeitsrecht. So müssen die Arbeitnehmervertreter Zugang zu Informationen über die Verfügbarkeit von Frühwarnsystemen (= Mechanismen, die auf eine drohende Insolvenz hinweisen) sowie zu Verfahren und Maßnahmen zur Restrukturierung bzw. Entschuldung haben. (Art. 3 Abs. 3 der Richtlinie). Es soll den Mitgliedstaaten auch offenstehen, den Arbeitnehmervertretern zur Bewertung der wirtschaftlichen Situation Unterstützung zu gewähren (Art. 3 Abs. 5 der Richtlinie). Die Arbeitnehmervertretung soll so in die Lage versetzt sein, selbst zu prüfen, ob das Unternehmen auf eine Insolvenz zusteuert.
Der europäische Gesetzgeber wünscht sich sogar, dass der Betriebsrat dem Unternehmen etwaige Bedenken hinsichtlich der wirtschaftlichen Situation und in Bezug auf die Notwendigkeit, eine Restrukturierung in Betracht zu ziehen, mitteilt (Art. 13 der Richtlinie).
Die Praxis wird zeigen, wie sich diese neuen Befugnisse auf den betrieblichen Alltag auswirken. Plant das Unternehmen die Ausarbeitung eines Restrukturierungsplans, muss es den Betriebsrat hierüber unterrichten und ihm Gelegenheit zur Stellungnahme geben, noch bevor der Plan den Gläubigern oder dem Gericht vorgelegt wird (Art. 13 der Richtlinie).
Streikrecht
Schließlich betont die Richtlinie, dass durch eine Restrukturierung weder das Recht auf Tarifverhandlungen noch das Recht auf Arbeitskampfmaßnahmen beeinträchtigt werden darf (Art. 13 der Richtlinie). Die Tatsache, dass ein Unternehmen um sein wirtschaftliches Überleben kämpft und zu diesem Zwecke einen Restrukturierungsplan ausarbeitet, bedeutet für sich genommen also nicht, dass Streiks unzulässig wären. Arbeitsniederlegungen mit dem Ziel, gegen Stellenabbau oder Lohnsenkungen zu protestieren, bleiben unter den allgemeinen Voraussetzungen erlaubt.
Tarifverträge
Für künftige Tarifverhandlungen ist daran zu denken, dass durch einen Restrukturierungsplan von bestehenden Tarifverträgen nicht abgewichen werden kann. Aus Sicht eines Unternehmens wäre es daher wünschenswert, wenn der Tarifvertrag ein Kündigungsrecht für den Fall vorsieht, dass ein Restrukturierungsplan von der Gläubiger-Mehrheit angenommen und von dem zuständigen Gericht genehmigt worden ist.
Der Beitrag ist Teil unserer Blogreihe zum Präventiven Restrukturierungsrahmen. Es erschien bereits ein Beitrag zu den Moratorien und zu den Restrukturierungsplänen. Anschließend haben wir uns mit den Pflichten der Unternehmensleitung, dem Schutz von Finanzierungen und Finanzierungsgebern sowie den Restrukturierungsbeauftragten und Verwaltern befasst. Zuletzt sind wir auf die Entschuldung insolventer Unternehmer eingegangen.
*Gemeint sind Beschäftigte jeder Geschlechtsidentität. Lediglich der leichteren Lesbarkeit halber wird künftig bei allen Bezeichnungen nur noch die grammatikalisch männliche Form verwendet.