6. Dezember 2021
Massenentlassungsanzeige Unterschrift
Arbeitsrecht

Massenentlassungsanzeige – Fehlende Unterschrift führt nicht zur Unwirksamkeit von Kündigungen

Mit dem Wort „schriftlich“ in § 17 Abs. 3 S. 2 KSchG ist nicht die Schriftform des § 126 BGB gemeint. Für die Massenentlassungsanzeige reicht die Textform aus.

Ist eine Personalabbaumaßnahme gut geplant und vorbereitet, sind in diesem Zusammenhang ausgesprochene Kündigungen in der Regel sozial gerechtfertigt, weil diese meist durch dringende betriebliche Erfordernisse bedingt sind, die einer Weiterbeschäftigung des betroffenen Arbeitnehmers* entgegenstehen. In diesem Fall bleibt den Arbeitnehmern bzw. ihren Rechtsanwälten oft keine andere Möglichkeit, als sich an Unwirksamkeitsgründe zu klammern, die außerhalb der vom Arbeitgeber getroffenen Unternehmerentscheidung liegen. Ein solcher Grund, der zur Unwirksamkeit einer Kündigung führen kann, ist eine fehlerhafte Massenentlassungsanzeige nach § 17 KSchG.

In mehreren Blogbeiträgen haben wir darauf aufmerksam gemacht, dass sich im Hinblick auf Massenentlassungsanzeigen wegen neuerer Urteile des BAG und des EuGH zahlreiche Stolperfallen herauskristallisiert haben: Der notwenige Inhalt der Massenentlassungsanzeige, der maßgebliche Betriebsbegriff und die zuständige Agentur für Arbeit, der richtige Konsultationspartner und der entscheidende Zeitpunkt für die Unterschrift unter einer Entlassung sind nur einige Beispiele.

LAG Köln: Unterschrift unter einer Massenentlassungsanzeige nicht notwendig

Mit einem solchen Stolperstein musste sich auch das LAG Köln auseinandersetzen: Es war aufgrund der Klage eines Arbeitnehmers darüber zu entscheiden, ob die bei der Agentur für Arbeit eingereichte Massenentlassungsanzeige einer Arbeitgeberin bereits deshalb fehlerhaft ist, weil sie keine Unterschrift und keinen Firmenstempel trägt, und die Kündigung des klagenden Arbeitnehmers deshalb unwirksam ist.

Das LAG Köln (Urteil v. 2. Juni 2021 – 6 Sa 1247/20) hat jedoch zur Erleichterung vieler Arbeitgeber entschieden, dass das Fehlen einer Unterschrift unter der Massenentlassungsanzeige nicht zur Unwirksamkeit der in diesem Zusammenhang ausgesprochenen Kündigungen führt. Das Wort „schriftlich“ in § 17 Abs. 3 S. 2 KSchG meine nicht die Schriftform im Sinne von § 126 BGB, vielmehr sei auch die Textform ausreichend. 

Diese Entscheidung des LAG Köln ist aus unserer Sicht überzeugend. Vor allem der Sinn und Zweck der Schriftform im Sinne von § 126 BGB zeigt, dass das Wort „schriftlich“ in § 17 Abs. 3 S. 2 KSchG nicht die strengen Anforderungen des § 126 BGB meint. Auch um dem Sinn und Zweck einer Massenentlassungsanzeige gerecht zu werden, ist die Einhaltung der Schriftform des § 126 BGB nicht erforderlich.

Gesetzliche Schriftform ist bei Massenentlassungsanzeigen unangebracht

Um den allgemeinen Rechtsverkehr nicht unnötig zu erschweren, gilt in Deutschland grundsätzlich das Prinzip der Formfreiheit. Das bedeutet, dass ein Rechtsgeschäft oder eine Willenserklärung grundsätzlich keine besondere Form haben muss, um wirksam zu sein. 

Von diesem Prinzip der Formfreiheit gibt es allerdings gesetzliche Ausnahmen, in denen eine bestimmte Form vorgeschrieben ist. Diese Ausnahmen verfolgen jeweils bestimmte Zwecke bzw. bestimmte Funktionen. Es handelt sich vor allem um Bestimmungen, die die Betroffenen vor den Risiken übereilt geschlossener Geschäfte bewahren („Warnfunktion“, z.B. bei einer Bürgschaft) bzw. die sicherstellen sollen, dass sie vor entsprechendem Vertragsschluss eine sachkundige Beratung und Belehrung erfahren („Beratungsfunktion“, z.B. bei einem Grundstückskaufvertrag), oder die der Klarstellung und Dokumentation dienen, ob und mit welchem Inhalt eine Erklärung abgegeben wird oder ob und wie ein konkretes Geschäft zustande kommt („Klarstellungs- und Beweisfunktion“, z.B. bei der Kündigung eines Arbeitsvertrages).

Eine Ausnahme vom Prinzip der Formfreiheit ist das in § 126 BGB normierte Schriftformerfordernis. Die Vorschrift setzt voraus, dass der Aussteller eines Schriftstücks dieses eigenhändig durch seine Namensunterschrift oder mittels eines notariell beglaubigten Handzeichens unterzeichnet. Die Unterschrift soll vor allem das relevante Schriftstück von einem bloßen Entwurf abgrenzen („Abschlussfunktion“) und deutlich machen, wer der Aussteller des Schriftstücks ist („Identitätsfunktion“). Außerdem soll die Unterschrift den Betroffenen auch vor unbedachten Erklärungen schützen („Warnfunktion“).

Die verschiedenen Zwecke und Funktionen der Schriftform passen nicht auf den Fall der Massenentlassungsanzeige. Weder müssen Arbeitgeber vor den Folgen einer unbedachten Massenentlassungsanzeige gewarnt werden noch ist ein ernsthaftes Interesse von Beteiligten oder Dritten an einer Fälschung der in der Massenentlassungsanzeige enthaltenen Angaben ersichtlich. Außerdem ist die Schriftform auch nicht deshalb erforderlich, damit die Agentur für Arbeit oder die von der Massenentlassungsanzeige betroffenen Arbeitnehmer ein zuverlässiges Beweismittel erhalten. Im Streitfall ist der Arbeitgeber in der Darlegungs- und Beweislast, dass er die Massenentlassungsanzeige ordnungsgemäß erstattet hat und diese der Agentur für Arbeit zugegangen ist. Schließlich kann die Agentur für Arbeit die Massenentlassungsanzeige auch dann auf Vollständigkeit, inhaltlichen Abschluss und Urheberschaft prüfen, wenn ihr diese in Textform übermittelt wird.  

Sinn und Zweck der Massenentlassungsanzeige: Belastungen des Arbeitsmarktes frühzeitig abfangen

Auch Sinn und Zweck der Massenentlassungsanzeige stützen die Entscheidung des LAG Köln. Es ist Aufgabe der Agentur für Arbeit, die von einer Massenentlassung ausgehenden sozioökonomischen Belastungen des Arbeitsmarktes aufzufangen und zu reduzieren. Durch die Massenentlassungsanzeige und die damit verbundene Sperrfrist des § 18 Abs. 1 KSchG wird der Agentur für Arbeit die Möglichkeit gegeben, frühzeitig auf die vorgesehene Entlassung einer größeren Anzahl von Arbeitnehmern zu reagieren sowie die entstehenden Belastungen für den Arbeitsmarkt und die betroffenen Arbeitnehmer insbesondere durch Vermittlungs- und Qualifizierungsmaßnahmen zu reduzieren.

Zur Verwirklichung der Funktionen einer Massenentlassungsanzeige ist die eigenhändige Unterschrift des Arbeitgebers nicht erforderlich. Vielmehr erhält die Agentur für Arbeit alle notwendigen Informationen zur Reaktion auf die Entlassung einer größeren Anzahl von Arbeitnehmern und zur Reduzierung der damit verbundenen Belastungen für den Arbeitsmarkt auch dann, wenn ihr die entsprechende Anzeige nur in Textform und ohne eigenhändige Unterschrift zur Verfügung gestellt wird. Sinn und Zweck der Anzeigepflicht von Massenentlassungen verlangen damit keine vom Arbeitgeber eigenhändig unterschriebene Massenentlassungsanzeige. Vielmehr genügt hierfür die Textform des § 126b BGB, die auch ohne das Erfordernis eigenhändiger Unterzeichnung sicherstellt, dass die Identitäts- und Vollständigkeitsfunktion einer schriftlichen Erklärung neben der ohnehin gegebenen Dokumentationsfunktion gewahrt ist. 

Gleiche Anforderungen wie bei der Unterrichtung des Betriebsrats nach § 17 Abs. 2 S. 1 KSchG

Die Entscheidung des LAG Köln ist auch deshalb konsequent und überzeugend, weil das Bundesarbeitsgericht bereits in der Vergangenheit festgestellt hat, dass der Arbeitgeber dem Betriebsrat im Rahmen des Konsultationsverfahrens die erforderlichen Auskünfte zwar nach § 17 Abs. 2 S. 1 KSchG „schriftlich“ zu erteilen hat, dabei aber nicht die formellen Anforderungen des § 126 BGB erfüllt werden müssen, sondern die Wahrung der Textform des § 126b BGB ausreichend ist (BAG, Urteil v. 22. September 2016 – 2 AZR 276/16). Es wäre widersprüchlich, an das Wort „schriftlich“ innerhalb der Vorschrift des § 17 KSchG jeweils unterschiedliche Anforderungen zu stellen. 

Auch die Massenentlassungsrichtlinie setzt keine Schriftform voraus 

Mit der Anzeigepflicht bei Massenentlassungen nach § 17 KSchG hat der deutsche Gesetzgeber die europäische Richt­li­nie 98/59/EG zur An­glei­chung der Rechts­vor­schrif­ten der Mit­glied­staa­ten über Mas­sen­ent­las­sun­gen („Mas­sen­ent­las­sungs­richt­li­nie“) in nationales Recht umgesetzt. In Artikel 3 Abs. 1 der Massenentlassungsrichtlinie ist ebenfalls vorgesehen, dass der Arbeitgeber alle beabsichtigten Massenentlassungen „schriftlich“ anzeigt. Nach der Rechtsprechung des EuGH muss der Bedeutungsgehalt des Begriffs „schriftlich“ in Rechtsakten der Union allerdings jeweils in Bezug auf die Zwecke der betreffenden Vorschrift ausgelegt werden (EuGH, Urteil v. 29. April 1982 – C-66/81).

In der juristischen Literatur wird einheitlich davon ausgegangen, dass der Begriff „schriftlich“ in Artikel 3 Abs. 1 der Massenentlassungsrichtlinie dahingehend auszulegen ist, dass nicht die strenge Schriftform des § 126 BGB, sondern vielmehr die Textform des § 126b BGB gemeint sei und die Massenentlassungsanzeige damit keine Originalunterschrift enthalten müsse. Das ergebe sich vor allem aus den Formulierungen in der englischen („in writing“), französischen („par écrit“) und niederländischen („schriftelijk“) Fassung der Massenentlassungsrichtlinie. Gründe, die dafür sprechen, dass der deutsche Gesetzgeber für die Massenentlassungsanzeige ein strengeres Formerfordernis statuieren wollte, als in der zugrunde liegenden Massenentlassungsrichtlinie vorgesehen ist, sind nicht erkennbar.

Fazit: Textform ist für Massenentlassungsanzeigen ausreichend – ein Restrisiko bleibt aber bestehen 

Sowohl Sinn und Zweck der Schriftform des § 126 BGB als auch Sinn und Zweck der Massenentlassungsanzeige zeigen deutlich, dass die Massenentlassungsanzeige keine eigenhändige Unterschrift benötigt. Die europäische Massenentlassungsrichtlinie, aus der sich die Mindestanforderungen für Massenentlassungen ergeben, setzt ebenfalls keine eigenhändige Unterschrift unter der Massenentlassungsanzeige voraus. Schließlich wäre es auch widersprüchlich, wenn das Wort „schriftlich“ in § 17 Abs. 3 S. 2 KSchG anders zu verstehen wäre als bei der Unterrichtung des Betriebsrats nach § 17 Abs. 2 S. 1 KSchG

Eine klarstellende Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts existiert bislang nicht und eine fehlerhafte Massenentlassungsanzeige führt unter anderem zur Unwirksamkeit der in diesem Zusammenhang ausgesprochenen Kündigungen. Daher empfehlen wir trotz der gewichtigen Argumente, die gegen das Erfordernis einer eigenhändigen Unterschrift unter der Massenentlassungsanzeige sprechen, die Anzeige sicherheitshalber mit einer eigenhändigen Unterschrift zu versehen und das Original der Anzeige bei der zuständigen Agentur für Arbeit einzureichen, bevor die angezeigten Entlassungen vorgenommen werden.

*Gemeint sind Beschäftigte jeder Geschlechtsidentität. Lediglich der leichteren Lesbarkeit halber wird künftig bei allen Bezeichnungen nur noch die grammatikalisch männliche Form verwendet.

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