Mit Veröffentlichung der Verbandsklagerichtlinie im Amtsblatt der EU läuft der Countdown für Unternehmen, sich auf das neue Sammelklageregime vorzubereiten.
Die Verbandsklagerichtlinie wurde am 4. Dezember 2020 im Amtsblatt der EU veröffentlicht und hat damit das europäische Gesetzgebungsverfahren vollständig durchlaufen. Bis Ende 2022 müssen die Mitgliedstaaten die Vorschriften der Verbandsklagerichtlinie in nationales Recht umsetzen. Damit werden die nationalen Regeln zur EU-weiten Verbandsklage spätestens Mitte 2023 in allen 27 Mitgliedstaaten in Kraft treten.
Für Unternehmen birgt das europäische Sammelklageregime neue Prozessrisiken. Unternehmen sollten sich daher rechtzeitig mit den neuen Verbandsklageregeln vertraut machen und geeignete Mechanismen zur Risikoprävention implementieren.
EU-weit kollektiver Rechtsschutz in Verbandsklagerichtlinie vorgesehen
Die Verbandsklagerichtlinie schreibt vor, dass in jedem Mitgliedstaat mindestens ein Verfahren zur Erhebung von Verbandsklagen zur Verfügung steht. Unerlaubte Praktiken sollen so auf dem zunehmend globalisierten und digitalisierten Markt abgewehrt werden.
Die Verbandsklagerichtlinie sieht im Wesentlichen vor, dass
- qualifizierte Einrichtungen
- Klagen gegen Unternehmer erheben können, die gegen verbraucherschützende EU-Vorschriften verstoßen,
- mit dem Ziel, Unterlassung oder Abhilfe wie Schadensersatz, Reparatur oder Vertragskündigung zu erwirken.
Betroffen sind neben dem allgemeinen Verbraucherrecht auch die Bereiche Datenschutz, Finanzdienstleistungen, Reiseverkehr und Tourismus, Umwelt und Energie, Telekommunikation, digitale Dienstleistungen und Produkthaftung. Für Unternehmen mit B2C-Geschäft wächst damit das Risiko, verklagt zu werden.
Anlass zur Erhebung einer Verbandsklage könnte zum Beispiel der massenhafte Abzug von Kundendaten geben, der aufgrund einer Sicherheitslücke bei einer Software möglich war. Vereinzelt sind nationale Sammelklagen aufgrund von Datenschutzverstößen im europäischen Ausland bereits anhängig.
Qualifizierte Einrichtungen können klagen
Klagen dürfen nur von „qualifizierten Einrichtungen″ erhoben werden. Laut Richtlinie ist dies jede Organisation oder öffentliche Stelle, welche die Verbraucherinteressen vertritt und von einem Mitgliedstaat zwecks Erhebung von Verbandsklagen benannt wurde. Die qualifizierte Einrichtung soll vor ihrer Benennung als solche bereits zwölf Monate zum Schutz von Verbraucherinteressen öffentlich tätig gewesen sein und darf keinen Erwerbszweck verfolgen. Anders als in der „class action″ des US-amerikanischen Sammelklageregimes kann die europäische Verbandsklage damit nicht von Anwaltskanzleien angestrengt werden.
Weitere Einschränkungen stellen der Ausschluss von Strafschadenersatz im Wege von Abhilfeklagen, die Ermächtigung der Gerichte, offensichtlich unbegründete Verbandsklagen in einem möglichst frühen Verfahrensstadium abzuweisen, sowie die Vermeidung von Interessenkonflikten im Rahmen der von der Richtlinie zugelassenen Drittfinanzierung dar.
Schließlich sieht die Verbandsklagerichtlinie die dem deutschen Zivilprozessrecht vertraute Kostentragungspflicht der unterlegenen Partei vor (Loser-Pays-Principle). Dieses Instrument hat allerdings zur Folge, dass ein Unternehmen neben behördlichen Bußgeldern möglicherweise auch Entschädigungszahlungen an die Verbraucher und Erstattung der Verfahrenskosten zu befürchten hat.
Weite prozessuale Besonderheiten der Verbandsklagerichtlinie: „Discovery″ und „Forum Shopping″
Die Verbandsklagerichtlinie sieht ein Recht auf Offenlegung von Beweismitteln vor, das an das angelsächsische Discovery- oder Disclosure-Verfahren erinnert. Zu Lasten der Unternehmen kann die Offenlegung von Beweismitteln angeordnet werden, die der Kontrolle des Unternehmens oder eines Dritten unterliegen. Damit soll das Informationsgefälle zwischen Verbrauchern und Unternehmen aufgefangen werden, das besteht, wenn sich Beweismittel ausschließlich im Besitz des Unternehmens befinden.
Der Wortlaut der Richtlinie legt weniger strenge Anforderungen an die Vorlage von Beweismitteln im Vergleich zu den Bestehenden des deutschen Zivilprozesses nahe. Nach deutschem Recht kann ein Gericht die Gegenpartei oder einen Dritten zur Vorlage von Dokumenten nur auf Grundlage eines schlüssigen, auf konkrete Tatsachen bezogenen Vortrags der anderen Partei verpflichten (§ 142 ZPO). Die bloße Behauptung der Existenz von nicht näher spezifizierten Dokumenten ist unzureichend. Es bleibt abzuwarten, wie Deutschland und die anderen Mitgliedstaaten das für die Verbandsklagen geltende Beweisrecht – unter Wahrung einschlägiger Vorschriften über Vertraulichkeit und Verhältnismäßigkeit – in das jeweilige nationale Recht umsetzen werden.
Des Weiteren hat der europäische Gesetzgeber beschlossen, dass eine qualifizierte Einrichtung die Verbandsklage grenzüberschreitend erheben kann, das heißt in einem anderen Mitgliedstaat als dem, in dem sie zur „qualifizierten Einrichtung″ benannt wurde. Vorbehaltlich der Vorschriften des Internationalen Privat- und Zuständigkeitsrechts versetzt die Zulässigkeit grenzüberschreitender Verbandsklagen qualifizierte Einrichtungen in die Lage, den für die Klagepartei attraktivsten zu wählen. Dieses „Forum Shopping“ wird dadurch gefördert, dass insbesondere Großunternehmen regelmäßig Tochtergesellschaften in mehreren Ländern haben und Gerichtsstände dann in zugleich mehreren Ländern in Betracht kommen dürften. Es birgt zudem das Risiko für Unternehmen, in einem fremden Land mit möglicherweise anderen Prozessgesetzen und in einer anderen Sprache zu prozessieren.
Gefahr des Wettlaufs der Mitgliedstaaten um das „attraktivste″ Verbandsklageregime
Der Gestaltungsspielraum der Mitgliedstaaten bei der Umsetzung der Verbandsklagerichtlinie in das jeweilige nationale Recht könnte zu einem „Wettlauf″ der Mitgliedstaaten um das „attraktivste″ Verbandsklageregime führen. In Kombination mit der Erhebung grenzüberschreitender Verbandsklagen bieten vor allem großzügigere Umsetzungen des Offenlegungsverfahrens potentielle Möglichkeiten zum „Forum Shopping″ und bringen die nationalen Verbandsklageregimes der Mitgliedstaaten zwangsläufig in einen Wettbewerb.
Deutschland verfügt mit der Musterfeststellungsklage bereits über ein Verbandsklageregime, mit dem Verbraucher ihre Rechte kollektiv geltend machen können. Deren Anwendungsbereich ist im Vergleich zur europäischen Verbandsklage aber wesentlich enger. Die Enthaltung Deutschlands bei der Abstimmung des Rates der EU über den Richtlinienentwurf Anfang November legt nahe, dass der deutsche Gesetzgeber einem liberalen Verbandsklageregime kritisch gegenübersteht.
Nun ist der Gesetzgeber am Zug, seiner Verpflichtung nachzukommen, die Verbandsklagerichtlinie in nationales Recht umzusetzen.
In unserer Blogserie „Verbraucherverträge im Digitalzeitalter″ zeigen wir auf, wie die Maßnahmenpakete der EU das europäische Verbraucherschutzrecht fit für das Digitalzeitalter machen sollen. Im ersten Teil beschäftigen wir uns mit den hohen Bußgeldern für Unternehmer, im zweiten Teil mit Bußgeldern bei Verletzungen von Verbraucherschutzvorschriften und Lauterkeitsrecht. Anschließend haben wir uns mit den Änderungen im BGB und den neuen Regelungen der Warenkaufrichtlinie beschäftigt. Zuletzt sind wir auf Personalized Pricing und Dual Quality Verbot eingegangen.