Der neue DCGK 2022 sieht zahlreiche nachhaltigkeitsbezogene Empfehlungen vor, die den Druck zur Sustainability-Transformation weiter verstärken.
Die Regierungskommission Deutscher Corporate Governance Kodex hat am 28. April 2022 eine neue Fassung des Deutschen Corporate Governance Kodex (DCGK 2022) beschlossen und diese am 17. Mai 2022 zur Prüfung beim Bundesministerium der Justiz vorgelegt. Mit seiner in Kürze erwarteten Bekanntmachung im Bundesanzeiger durch das Bundesjustizministerium wird der DCGK 2022 in Kraft treten und damit den Deutschen Corporate Governance Kodex in seiner bisherigen Fassung vom 16. Dezember 2019, bekanntgemacht im Bundesanzeiger am 20. März 2020 (DCGK 2020), ersetzen.
Die von der Regierungskommission beschlossenen neuen Grundsätze und Empfehlungen betreffen zum einen Anpassungen an die durch das FISG und FüPoG II geänderte Rechtslage und zum anderen die Berücksichtigung ökologischer und sozialer Nachhaltigkeit bei der Leitung und Überwachung von Unternehmen. Mit der Einführung nachhaltigkeitsbezogener Kodexempfehlungen dürfte sich der Druck auf Unternehmen zur Sustainability Transformation weiter verstärken.
Änderungen des DCGK 2022 gegenüber dem Kodexänderungsentwurf vom 21. Januar 2022
Gegenüber dem Entwurf des DCGK 2022 vom 21. Januar 2022, der bis zum 11. März 2022 der Öffentlichkeit zur Konsultation gestellt wurde, kam es noch zu Änderungen, insbesondere zu folgenden Modifikationen beim DCGK 2022:
- Wie in ihrer Pressemitteilung vom 5. April 2022 angekündigt, hat die Regierungskommission die im Konsultationsverfahren vielfach geäußerte Kritik, im Kodex würden ökologische und soziale (Nachhaltigkeits-)Belange im Rahmen der Unternehmensleitung und -überwachung zu stark und einseitig betont, aufgegriffen und Formulierungen (klarstellend) angepasst: Sozial- und Umweltfaktoren sind nunmehr „im Rahmen des Unternehmensinteresses“ (Präambel Abs. 2 DCGK 2022) zu berücksichtigen; ökologische und soziale Ziele sollen „neben den langfristigen wirtschaftlichen Zielen auch“ berücksichtigt werden (Empfehlung A.1 Satz 2 DCGK 2022). Der DCGK 2022 dürfte damit nicht mehr den Eindruck einer Übergewichtung der ökologischen und sozialen Nachhaltigkeitsbelange erwecken und kein insofern unausgewogenes Bild der Leitungsaufgabe vermitteln.
- Die zuvor in der Konsultationsfassung geplante Empfehlung A.6, welche die vorstandsbezogenen Empfehlungen A.1 und A.3 auf den Aufsichtsrat übertrug, wurde aufgegeben. Stattdessen ist in Grundsatz 6 DCGK 2022 ergänzt worden, dass die Überwachung und die Beratung des Vorstands durch den Aufsichtsrat insbesondere auch Nachhaltigkeitsfragen umfassen. Dieses auf die Vorstandstätigkeit bezogene Aufgabenspektrum ergibt sich für den Aufsichtsrat richtigerweise bereits aus dem Gesetz.
- Neu ist die Empfehlung einer „Qualifikationsmatrix“, mit der in der Erklärung zur Unternehmensführung der Umsetzungsstand der konkreten Zusammensetzungsziele und des Kompetenzprofils für den Aufsichtsrat offengelegt werden soll (Empfehlung C.1 Satz 5 DCGK 2022).
- Die in der Konsultationsfassung noch vorgesehene Empfehlung D.3 Satz 4, dass der Prüfungsausschuss auch externe Prüfungen der Governance-Systeme (internes Kontrollsystem – IKS, Risikomanagementsystem – RMS, Compliance-Management-System – CMS, interne Revision) veranlassen soll, wurde hingegen nicht aufgenommen. Ebenfalls aufgegeben wurde die bisherige Anforderung an die (Doppel-)Expertise des Prüfungsausschussvorsitzenden*, sowohl auf dem Gebiet der Rechnungslegung als auch auf dem Gebiet der Abschlussprüfung (Empfehlung D.4 DCGK 2020).
- Des Weiteren wurde die bisherige Empfehlung zur Offenlegung der individuellen Sitzungsteilnahme der Mitglieder des Aufsichtsrats nach D.8 Satz 1 DCGK 2020 dahingehend erweitert, dass nunmehr im Aufsichtsratsbericht auch zusätzlich angegeben werden soll, wie viele Sitzungen des Aufsichtsrats und der Ausschüsse in Präsenz oder als Video- oder Telefonkonferenzen durchgeführt wurden (D.7 Satz 1 DCGK 2022). Die Anregung, dass die Teilnahme an (Präsenz-)Sitzungen des Aufsichtsrats und seiner Ausschüsse über Telefon- und Videokonferenzen nicht die Regel sein sollte, wurde hingegen gestrichen. Letzteres ist konsequent, zum einen, da sich das virtuelle Format der Gremiensitzungen während der letzten zwei Jahre der COVID-19-Pandemie bewährt hat, zum anderen, da die zunehmende und schon aus Diversitätsgründen wünschenswerte internationale Besetzung der Aufsichtsräte dies erfordert.
Kodexänderungen im Lichte der Nachhaltigkeit
Der Schwerpunkt der Änderungen des DCGK 2022 gegenüber dem DCGK 2020 liegt auf der Einführung von Empfehlungen zur Berücksichtigung der ökologischen und sozialen Nachhaltigkeit bei der Leitung und Überwachung von Unternehmen.
Ausweislich der Kodexbegründung meint der im DCGK 2022 verwendete Begriff der Nachhaltigkeit „auf die Umwelt (Ökologie) und auf Soziales bezogene Ziele“, wobei zur Orientierung die UN Sustainable Development Goals herangezogen werden können. In dem Sinne, dass Nachhaltigkeitsziele Chancen und Risiken für die Unternehmen darstellen können, spricht der Kodex auch von Umwelt- und Sozialfaktoren.
Präambel Abs. 2: Gesellschaftliche Verantwortung
Die Gesellschaft und ihre Organe haben sich in ihrem Handeln der Rolle des Unternehmens in der Gesellschaft und ihrer gesellschaftlichen Verantwortung bewusst zu sein. Sozial- und Umweltfaktoren beeinflussen den Unternehmenserfolg und die Tätigkeiten des Unternehmens haben Auswirkungen auf Mensch und Umwelt. Vorstand und Aufsichtsrat berücksichtigen dies bei der Führung und Überwachung im Rahmen des Unternehmensinteresses.
Der Begründung der Regierungskommission zufolge bedurfte bereits die Präambel des DCGK 2020 einer Nachjustierung, weil die Erwartungen an die Berücksichtigung von Nachhaltigkeitsfaktoren bei der Unternehmensführung wesentlich konkreter geworden seien. Außerdem enthalte der von der EU-Kommission vorgeschlagene Entwurf zur Nachhaltigkeitsberichterstattung (Corporate Sustainability Reporting Directive – CSRD) die klare Anforderung an die Unternehmen, nicht nur den Einfluss von Sozial- und Umweltfaktoren auf den Unternehmenserfolg (Outside-in-Perspektive), sondern auch die Auswirkungen des Unternehmens auf Mensch und Umwelt (Inside-out-Perspektive) einzubeziehen (sog. doppelte Wesentlichkeit oder doppelte Maßgeblichkeit).
In die Präambel ist deshalb aufgenommen worden, dass Vorstand und Aufsichtsrat beide Perspektiven bei der Führung und Überwachung des Unternehmens im Rahmen des Unternehmensinteresses berücksichtigen.
Nachhaltigkeitsbezogene Empfehlungen für den Vorstand
Der Vorstand soll ökologische und soziale (Nachhaltigkeits-)Ziele bei der Unternehmensleitung angemessen berücksichtigen. Nach Auffassung der Regierungskommission gebietet es das Unternehmensinteresse, auch Nachhaltigkeit in der Unternehmensstrategie zu verankern.
Empfehlung A.1 DCGK 2022 für den Vorstand: Risiken-Chancen-Erfassung, Unternehmensstrategie und -planung
Der Vorstand soll die mit den Sozial- und Umweltfaktoren verbundenen Risiken und Chancen für das Unternehmen sowie die ökologischen und sozialen Auswirkungen der Unternehmenstätigkeit systematisch identifizieren und bewerten. In der Unternehmensstrategie sollen neben den langfristigen wirtschaftlichen Zielen auch ökologische und soziale Ziele angemessen berücksichtigt werden. Die Unternehmensplanung soll entsprechende finanzielle und nachhaltigkeitsbezogene Ziele umfassen.
Diese an den Vorstand gerichtete Empfehlung betrifft zunächst die Erfassung von mit Nachhaltigkeitsbelangen verbundenen Risiken und Chancen für das Unternehmen (Sozial- und Umweltfaktoren) mit den Methoden des Risikomanagements und dürfte insoweit eher als eine Präzisierung zu verstehen sein; denn ein umfassendes Risikomanagement muss ohnehin alle für das Unternehmen relevanten Risiken und Chancen erfassen.
Eine neue Anforderung stellt hingegen die systematische Identifizierung und Bewertung der ökologischen und sozialen Auswirkungen der Unternehmenstätigkeit und damit das Einnehmen der Inside-out-Perspektive dar, die allenfalls als Reflex wieder zu Chancen und Risiken für das Unternehmen führt. Es dürfte davon auszugehen sein, dass beide Perspektiven zur (Weiter-)Entwicklung und Verfolgung einer sowohl finanzielle als auch nachhaltigkeitsbezogene Ziele umfassenden (gesamthaften) Unternehmensstrategie mit entsprechend ausgerichteter Unternehmensplanung dienen sollen. In der Praxis werden zunehmend Nachhaltigkeitsabteilungen, (Chief) Sustainability Officer und Sustainability Committees in die Unternehmensorganisation implementiert, die sich mit den ökologischen und sozialen Auswirkungen befassen.
Die Empfehlung der Konsultationsfassung,
die Unternehmensstrategie soll Auskunft darüber geben, wie die wirtschaftlichen, ökologischen und sozialen Ziele in einem ausgewogenen Verhältnis umzusetzen sind,
und die dazugehörige Begründung,
die Unternehmensstrategie soll den Ausgleich von Ökonomie, Ökologie und Sozialem darstellen,
wurden nach heftiger Kritik im Konsultationsverfahren angepasst. Nunmehr empfiehlt der DCGK 2022, dass
in der Unternehmensstrategie neben den langfristigen wirtschaftlichen Zielen auch ökologische und soziale Ziele angemessen berücksichtigt werden
sollen (Empfehlung A.1 Satz 2 DCGK 2022).
Diese Anpassung durch die Regierungskommission ist richtig und wichtig. Denn die Konsultationsfassung konnte dahingehend missverstanden werden, dass die wirtschaftlichen und nachhaltigkeitsbezogenen Ziele gleichrangig bzw. gleich zu gewichten seien. Es geht aber nicht um einen solchen Interessenausgleich, sondern um eine angemessene Interessenberücksichtigung. Den zentralen, aber unbestimmten Begriff des „Unternehmensinteresses“, der für die Wahrnehmung der Aufgaben von Vorstand und Aufsichtsrat maßgeblich ist, versteht die wohl herrschende Meinung in der aktienrechtlichen Literatur dahingehend, dass die Verwaltungsorgane grds. sämtliche im Unternehmen zusammentreffenden Interessen der verschiedenen Interessengruppen (Aktionäre, Fremdkapitalgeber, Arbeitnehmer, Kunden, Lieferanten und allgemeine Öffentlichkeit bzw. Gemeinwohl) berücksichtigen und Zielkonflikte widerstreitender Interessen nach pflichtgemäßem Ermessen auflösen müssen (interessenplurales Konzept bzw. Stakeholder-Ansatz). Dabei ist umstritten, ob und inwieweit ein (leichter) Gewichtungsvorsprung zugunsten der – abstrakt typisierend zu bestimmenden – Aktionärsinteressen vor den Belangen anderer Stakeholder besteht. Der Meinungsstreit relativiert sich für die Praxis z.T. dadurch, dass selbst nach einem Ansatz, der das (langfristige) Aktionärsinteresse und damit die Sicherung dauerhafter (nachhaltiger) Rentabilität und Ertragskraft in den Vordergrund stellt, stets mittelbar auch die Beachtung der anderen Stakeholder-Interessen umfasst ist (i.S.e. Corporate Reputation Management im wohlverstandenen, d.h. unternehmenswertsteigernden Aktionärsinteresse). In der Begründung des DCGK 2022, die sich daneben ausdrücklich für den Stakeholder-Ansatz bei der Ermittlung des konkreten Unternehmensinteresses ausspricht, heißt es in diesem Sinne auch:
Langfristig bedingen sich wirtschaftliche, ökologische und soziale Ziele häufig gegenseitig. Ökologische und soziale Nachhaltigkeit sind ebenso Voraussetzung für eine langfristige Wertsteigerung wie ökonomische Stärke und Stabilität Voraussetzung für Investitionen und weitere Maßnahmen sind, die ökologischen und sozialen Zielen dienen.
Bei der Bestimmung des konkreten Unternehmensinteresses verfügen die Verwaltungsorgane über ein weites Ermessen, das bei Beachtung der Business Judgement Rule (vgl. § 93 Abs. 1 S. 2 AktG, ggf. i.V.m. § 116 S. 1 AktG) nur eingeschränkt justiziabel ist. Eine Grenze des Ermessens ist aber erreicht, wenn die betreffende Entscheidung den Bestand und damit die dauerhafte Rentabilität des Unternehmens gefährden würde.
Empfehlung A.3 DCGK 2022 für den Vorstand: Internes Kontrollsystem und Risikomanagementsystem
Das interne Kontrollsystem und das Risikomanagementsystem sollen, soweit nicht bereits gesetzlich geboten, auch nachhaltigkeitsbezogene Ziele abdecken. Dies soll die Prozesse und Systeme zur Erfassung und Verarbeitung nachhaltigkeitsbezogener Daten mit einschließen.
Gesetzliche Pflichten betreffend die Einbeziehung bestimmter nachhaltigkeitsbezogener Ziele in das Risikomanagementsystem und das interne Kontrollsystem ergeben sich für bestimmte Unternehmen bereits aus dem Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz (vgl. §§ 3 ff. LkSG), das am 1. Januar 2023 in Kraft tritt.
Ungeachtet dessen erfordert die kurz vor ihrer Verabschiedung stehende Corporate Sustainability Reporting Directive (CSRD) – die nach aktuellem Vernehmen aus den derzeit laufenden Trilog-Verhandlungen für ab dem 1. Januar 2024 bzw. bei kapitalmarktorientierten kleinen und mittleren Unternehmen (KMU) (mit Ausnahme von Kleinstunternehmen) für ab dem 1. Januar 2026 beginnende Geschäftsjahre gelten soll –, dass die mit hoher Detailtiefe berichtspflichtigen Nachhaltigkeitsaspekte in die Governance-Systeme umfassend integriert werden. Denn nur wenn diese Aspekte angemessen identifiziert und bewertet, entsprechende Maßnahmen daraus abgeleitet, Prozesse implementiert und kontrolliert werden, wird eine solche Berichterstattung in der geforderten Form möglich sein.
Zudem wird die – gegenüber der CSR-Richtlinie (vgl. §§ 289b ff., 315b f. HGB) inhaltlich massiv ausgeweitete – Nachhaltigkeitsberichterstattung der Finanzberichterstattung zukünftig gleichgestellt sein (u.a. zwingender Teil des [Konzern-]Lageberichts, Prüfung durch Prüfungsausschuss und Abschlussprüfer oder anderes WP-Unternehmen und – nach Vorstellung des Rechtsausschusses des EU-Parlaments – alternativ auch Prüfung durch sog. unabhängigen Erbringer von Bestätigungsleistungen). Nachhaltigkeitsziele sollen daher folgerichtig in das interne Kontrollsystem (IKS) und das Risikomanagementsystem (RMS) einbezogen werden.
In diesem Kontext formuliert der DCGK 2022 neuerdings, dass das interne Kontrollsystem und das Risikomanagementsystem auch ein an der Risikolage des Unternehmens ausgerichtetes Compliance-Management-System (CMS) umfassen (vgl. Grundsatz 5 Satz 2 DCGK 2022). Darüber hinaus wird auch die interne Revision zukünftig auf Nachhaltigkeitsaspekte zu erweitern sein. Die Regierungskommission weist in der Begründung des DCGK 2022 zutreffend darauf hin, dass die Erfassung und Verarbeitung nachhaltigkeitsbezogener Daten innerhalb der Governance-Systeme zwingende Voraussetzung für eine wirksame Umsetzung der (gesamthaften) Unternehmensstrategie ist.
Nachhaltigkeitsbezogene Empfehlungen für den Aufsichtsrat
Der Aufsichtsrat soll überwachen, wie der Vorstand mit den Nachhaltigkeitsfragen umgeht. Um ihrer Aufgabe gerecht zu werden, benötigen die Aufsichtsräte eine entsprechende Nachhaltigkeitsexpertise.
Empfehlung C.1 Satz 3 DCGK 2022 für den Aufsichtsrat: Unternehmensrelevante Nachhaltigkeitsexpertise
Das Kompetenzprofil des Aufsichtsrats soll auch Expertise zu den für das Unternehmen bedeutsamen Nachhaltigkeitsfragen umfassen.
Die Empfehlung soll eine unternehmensrelevante Nachhaltigkeitsexpertise im Aufsichtsrat sicherstellen, damit der Aufsichtsrat seinen nachhaltigkeitsbezogenen Überwachungssaufgaben gerecht werden kann. In der Begründung der Konsultationsfassung wies die Regierungskommission noch ausdrücklich darauf hin, dass die Expertise in den für das Unternehmen bedeutsamen Nachhaltigkeitsfragen unabhängig von der Sachkunde für die Nachhaltigkeitsberichterstattung und deren Prüfung sei (s.u. Empfehlung D.3 DCGK 2022). Gleichwohl ist weiterhin zwischen der eher inhaltlichen Expertise in relevanten Nachhaltigkeitsfragen und der Expertise in der Nachhaltigkeitsberichterstattung im Rahmen der Rechnungslegung und von deren Prüfung zu differenzieren. Entscheidend für die Expertise in den für das Unternehmen bedeutsamen Nachhaltigkeitsfragen ist nach Auffassung der Regierungskommission, dass der Aufsichtsrat fachlich insbesondere auch überwachen kann, wie die ökologischen und sozialen Nachhaltigkeitsziele bei der strategischen Ausrichtung und der Unternehmensplanung berücksichtigt werden. Dabei braucht sich die betreffende Nachhaltigkeitsexpertise nicht in einem Aufsichtsratsmitglied zu bündeln. Stattdessen können relevante Teilaspekte auch von verschiedenen Aufsichtsratsmitgliedern beigetragen werden, was dann in der vom DCGK 2022 neu geforderten Qualifikationsmatrix ersichtlich sein müsste. Mit der Qualifikationsmatrix soll in der Erklärung zur Unternehmensführung der Umsetzungsstand der konkreten Zusammensetzungsziele und des Kompetenzprofils für das Gesamtgremium des Aufsichtsrats offengelegt werden (Empfehlung C.1 Satz 5 DCGK 2022).
Die unternehmensrelevante Nachhaltigkeitsexpertise, die bislang nur in vereinzelten HV-Abstimmungsrichtlinien in Bezug auf die Besetzung des Aufsichtsrats verlangt wurde (z.B. bei Union Investment, DWS und DSW), werden insbesondere aktivistische Investoren bei zukünftigen Aufsichtsratswahlen in Frage stellen und womöglich mit eigenen Kandidatenvorschlägen Aufsichtsräte herausfordern.
Empfehlung D.3 DCGK 2022 für den Aufsichtsrat: Kompetenzprofil für den Prüfungsausschuss
Der Sachverstand auf dem Gebiet Rechnungslegung soll in besonderen Kenntnissen und Erfahrungen in der Anwendung von Rechnungslegungsgrundsätzen und interner Kontroll- und Risikomanagementsysteme bestehen und der Sachverstand auf dem Gebiet Abschlussprüfung in besonderen Kenntnissen und Erfahrungen in der Abschlussprüfung. Zur Rechnungslegung und Abschlussprüfung gehören auch die Nachhaltigkeitsberichterstattung und deren Prüfung. Der Vorsitzende des Prüfungsausschusses soll zumindest auf einem der beiden Gebiete entsprechend sachverständig sein. Die Erklärung zur Unternehmensführung soll die betreffenden Mitglieder des Prüfungsausschusses nennen und nähere Angaben zu ihrem Sachverstand auf den genannten Gebieten enthalten. Der Aufsichtsratsvorsitzende soll nicht den Vorsitz im Prüfungsausschuss innehaben.
Die Empfehlung knüpft an die durch das FISG verschärften gesetzlichen Anforderungen an die Zusammensetzung des Prüfungsausschusses bei Unternehmen von öffentlichem Interesse i.S.v. § 316a S. 2 HGB an, wonach mind. ein Mitglied über Sachverstand auf dem Gebiet Rechnungslegung und mind. ein weiteres Mitglied über Sachverstand auf dem Gebiet Abschlussprüfung verfügen muss (vgl. §§ 107 Abs. 4 S. 3 i.V.m. § 100 Abs. 5 AktG; Grundsatz 15 DCGK 2022). Der DCGK 2022 verlangt nunmehr, dass der Sachverstand auf dem Gebiet Rechnungslegung in besonderen Kenntnissen und Erfahrungen in der Anwendung von Rechnungslegungsgrundsätzen und internen Kontroll- und Risikomanagementsystemen und der Sachverstand auf dem Gebiet Abschlussprüfung in besonderen Kenntnissen und Erfahrungen in der Abschlussprüfung bestehen sollen. In Bezug auf die Abschlussprüfung ist die Qualifikationsanforderung dahingehend verschärft worden, dass es zukünftig auch hier besonderer Kenntnisse und Erfahrungen statt einer (bloßen) Vertrautheit mit dem Sachgebiet bedarf. Nach der Begründung des DCGK 2022 setzen dabei rechnungslegungs- und abschlussprüfungsbezogene Erfahrungen eine eigene Tätigkeit auf den betreffenden Gebieten voraus, wozu jedoch eine Ausbildung und Tätigkeit als Wirtschaftsprüfer nicht erforderlich sei.
Darüber hinaus ist das Kompetenzprofil für den Rechnungslegungs- bzw. Abschlussprüfungsexperten jeweils im Hinblick auf die Nachhaltigkeitsberichterstattung bzw. deren Prüfung erweitert worden, was eine weitere Verschärfung darstellt, aber auch mit Blick auf die bevorstehende CSRD notwendig sein wird.
Die bisherige Anforderung an die doppelte (Finanz-)Expertise des Prüfungsausschussvorsitzenden, wonach dieser über besondere Kenntnisse und Erfahrungen in der Anwendung von Rechnungslegungsgrundsätzen und internen Kontrollverfahren verfügen sowie mit der Abschlussprüfung vertraut sein soll (D.4 Satz 1 DCGK 2020), wurde hingegen aufgegeben. Künftig genügt es, wenn der Prüfungsausschussvorsitzende auf einem der beiden Gebiete, Rechnungslegung oder Abschlussprüfung, sachverständig im vorbeschriebenen Sinne ist.
Kodexänderungen im Lichte des FISG
Die Neuregelungen durch das FISG haben – als gesetzgeberische Reaktion auf den Wirecard-Fall – in Teilen die schon bestehende Best Practice zum Prüfungsausschuss und zu den Governance-Systemen im Aktienrecht kodifiziert und dazu geführt, dass die bisherige Empfehlung D.3 DCGK 2020 (Einrichtung und Aufgaben des Prüfungsausschusses) obsolet wurde.
Darüber hinaus ist die Einrichtung eines CMS nun nicht mehr als Empfehlung (vgl. A.2 Satz 1 DCGK 2020), sondern als Grundsatz formuliert worden (vgl. Grundsatz 5 Satz 2 DCGK 2022). Dies ist vor dem Hintergrund zu sehen, dass bei börsennotierten Gesellschaften aufgrund von deren Risikoexposition i.d.R. eine Verpflichtung zur Einrichtung eines CMS aus der Legalitäts- und allgemeinen Sorgfaltspflicht (einschließlich Organisationspflichten) nach §§ 93 Abs. 1 S. 1, 76 Abs. 1 AktG abzuleiten ist (vgl. auch Begr. RefE FISG, S. 116; die Klarstellung findet sich in Begr. RegE FISG, S. 114 f. nicht mehr).
Allerdings ist im Aktienrecht auch nach Einführung von § 91 Abs. 3 AktG durch das FISG umstritten, ob der Vorstand per se (zwingend) zur Einrichtung einer solch umfassenden institutionalisierten Compliance-Organisation verpflichtet ist (so die dem DCGK 2022 zugrundeliegende Auffassung der Regierungskommission) oder einer entsprechenden Pflicht nur situationsabhängig – unter Berücksichtigung insbesondere von Unternehmensgröße und Risikolage (z.B. zu beachtende Vorschriften, Branche, geographische Präsenz) – unterliegt, sofern anderenfalls die Sicherstellung der Legalität im Unternehmen nicht gewährleistet werden kann. Der letzteren Auffassung entsprach noch die bisherige Differenzierung in Grundsatz 5 und Empfehlung A.2 DCGK 2020, die im DCGK 2022 nunmehr aufgegeben worden ist. Zumindest für kleinere börsennotierte Unternehmen mit geringer Risikoexposition (z.B. Beteiligungsgesellschaften), für die diese Streitfrage auch (haftungs-)relevant ist, dürfte darin eine Verschärfung zu sehen sein.
Des Weiteren ist der Grundsatz 4 DCGK 2022 an den Wortlaut von § 91 Abs. 3 AktG dahingehend angepasst worden, dass es für einen verantwortungsvollen Umgang mit den Risiken der Geschäftstätigkeit eines „angemessenen“ (zuvor: „geeigneten“) und wirksamen internen Kontrollsystems und Risikomanagementsystems bedarf. Ergänzend dazu wird nunmehr klargestellt, dass die Angemessenheit und Wirksamkeit des internen Kontrollsystems und des Risikomanagementsystems deren interne Überwachung voraussetzt (vgl. Grundsatz 4 Satz 2 DCGK 2022).
Sonstige Kodexänderungen
Weitere neue Empfehlungen des DCGK 2022 betreffen schließlich die Beschreibung der wesentlichen Merkmale des gesamten IKS und RMS sowie die Stellungnahme zur Angemessenheit und Wirksamkeit dieser Systeme im Lagebericht (Empfehlung A.5 DCGK 2022), die zusätzliche Angabe der Sitzungsform neben der Anzahl der Aufsichtsrats- und Ausschusssitzungen (Empfehlung D.7 DCGK 2022) sowie die Arbeitsweise des Prüfungsausschusses wie insbesondere dessen Zusammenarbeit mit dem Abschlussprüfer (D.10 DCGK 2022).
Auf dem Weg zu einer zunehmenden Sustainable Board Governance
Nachhaltigkeitsaspekte bilden bereits bei vielen börsennotierten Unternehmen einen integralen Bestandteil der Unternehmensstrategie, -steuerung und ‑planung und werden entsprechend als (ESG-)Risiken in den Governance-Systemen (IKS, RMS, CMS, interne Revision) erfasst. Für diese Unternehmen ergibt sich aus den Neuerungen des DCGK 2022 daher allenfalls nur ein geringer Anpassungsbedarf.
Begrüßenswert ist die Zurückhaltung der Regierungskommission, weitere Empfehlungen zur Besetzung und Binnenorganisation von Vorstand und Aufsichtsrat aufzunehmen und somit sonstige Einzelheiten der (Selbst-)Organisation der Organe entsprechend den unternehmensspezifischen Besonderheiten zu überlassen. Dies gilt z.B. in Bezug auf eine (spezielle) Nachhaltigkeitsexpertise im Vorstand, da eine solche auch in nachgelagerten Führungsebenen umfassend vorgehalten werden kann – etwa in Form von Sustainability Committees, die vom Vorstand mit der Steuerung der Nachhaltigkeitsstrategie, der Definition bestimmter Nachhaltigkeits-KPIs und dem (internen und externen) Nachhaltigkeits-Reporting betraut sind.
Nachhaltigkeits- bzw. ESG-Aspekte werden jedenfalls aufgrund ihrer (zunehmenden) Strategierelevanz zu einem festen Bestandteil der Vorstands- und Aufsichtsratstätigkeit und werden als Querschnittsmaterie die Gesamtgremien noch stärker beschäftigen.
Ergänzend zu unserer DCGK-Checkliste, die Vorstand und Aufsichtsrat die Umsetzung des Deutschen Corporate Governance Kodex erleichtern soll, haben wir in einer Synopse die vorstehend näher erörterten Änderungen der finalen Fassung des Kodex 2022 (und seiner Begründung) gegenüber dem Kodex 2020 sowie dem Kodexänderungsentwurf 2022 kenntlich gemacht.
Unsere Beitragsserie „Corporate Governance & Risk Compliance″ startet mit Themen wie Frauenquote im Vorstand, Änderungen in der Compliance und beim Deutscher Corporate Governance Kodex sowie den aktuellen ARUG II und DCGK. Weiter ging es mit der CSR-Richtlinie, den Vorstandspflichten und Nachhaltigkeitsaspekten in der Gesellschaftsverfassung. Weiter befasst haben wir uns mit der ESG-Due Diligence und dem Greenwashing. Zuletzt sind wir auf das neue ElektroG sowie Nachhaltigkeit im Vorstandsvergütungssystem, grüne Investitionen und ESG-aktivistische Investoren eingegangen.
*Gemeint sind Personen jeder Geschlechtsidentität. Lediglich der leichteren Lesbarkeit halber wird künftig bei allen Bezeichnungen nur noch die grammatikalisch männliche Form verwendet.