Wir widmen uns in unserer Serie Deutschlands Arbeitsgerichten – den Gebäuden, ihrer Architektur und der Umgebung. Wesel war unser Ziel Nummer 19.
Wesel: Manche von uns verbinden damit automatisch Urlaub in den Bergen und lautes Rufen ins Tal und Warten auf das Echo. Eselfiguren sind daher auch in der Stadt an vielen Stellen anzutreffen. Das Wetter am letzten Tag im November machte es der Stadt nicht einfach. Es regnete in Strömen und der Bahnhof hat keine Dächer. Dementsprechend hielt ich mich auch ausnahmsweise mit den Außenaufnahmen zurück.
Zur Geschichte
Das Arbeitsgericht ist – wie so häufig – dem Amtsgericht gefolgt. Aber der Reihe nach: Ende des 19. Jahrhunderts wurden auf zwei Grundstücken an der Ritterstraße ein Gerichtsgebäude und daneben ein Gefängnis errichtet. In den Backsteinbau an der Schmidtstraße Ecke Ritterstraße zog das Amtsgericht ein. Gegen Ende des zweiten Weltkriegs wurde das Gebäude erheblich beschädigt, geplündert und in Brand gesteckt. Danach wurde der Altbau nur teilweise wiedererrichtet, das Gefängnisgebäude blieb Ruine. Das Amtsgericht nahm seine Arbeit im Sommer 1950 wieder auf und wurde am 7. August 1950 feierlich eingeweiht. Bis 1956 erfolgte an dessen Stelle ein Anbau, in den sich das Amtsgericht ausdehnte. In diesen „Neubau″ zog am 19.11.1984 das Arbeitsgericht ein, als sich das Amtsgericht eine neue Bleibe suchte. Damit verfügte das Arbeitsgericht über Räumlichkeiten, die „an Gediegenheit und Geschmack kaum zu übertreffen″ sind, wie sich der dazugehörigen Verwaltungskorrespondenz entnehmen lässt.
Außenansichten
Der Neubau ist ein typisches Kind der 50er Jahre. Wer unser altes CMS Deutschland – Büro am Theodor-Heuss-Ring in Köln kennt, findet viele Ähnlichkeiten.
Unter einem Walmdach gibt es drei völlig unterschiedliche Fassaden an Nord, West und Südseite. Die Nordseite beherbergt den Eingang. Drei Fensterreihen zeichnen links die Etagen nach. Der rechte Gebäudeteil, die Stirnseite der Sitzungssäle ist fensterlos. Die Backsteinfassade wird hier durch eine erst später angebrachte Kunstinstallation – auf zeitgenössischen Bildern aus dem Jahr 1956 ist sie noch nicht zu sehen – verziert: Drei Vögel ziehen gen Himmel.
Die Westseite wird durch die großen Fenster der Sitzungssäle bestimmt.
Die Südseite, sozusagen die Arbeitsseite des Gerichts, wird durch die großen Fensterflächen des Treppenhauses geöffnet. Auch hier befindet sich ein geschlossener Fassadenteil, nämlich die Rückseite der beiden Sitzungssäle. Statt einer Kunstinstallation beschränkt sich hier die Fassade auf eine Musterung im Backstein.
Die inneren Werte
Betritt man das Gebäude durch den Haupteingang oder über den Hof über den barrierefreien Hintereingang gelangt man in die Eingangshalle. Naturstein auf dem Boden, steinverkleidete Säule und eine zwischen den Etagen frei schwebende Treppe mit schlichtem Geländer. An deren Unterseite sind Lampen eingelassen – nein, keine LED, sondern unter runden Glasabdeckungen eingelassene Glühlampen, also echte 50er-Jahre-Gestaltung.
Geschwungen wie die Treppe nach oben ist auch die in den Keller.
Und wie es sich für einen Bau im Nachkriegsdeutschland des frühen Atomzeitalters gehört, befindet sich ganz unten ein Luftschutzkeller: Stahltür und Luftfilteranlage inklusive. Wie man sieht, hat sich das alte Schild des Gerichts auch hier hin gerettet.
Eine halbe Treppe höher finden sich mit mehreren Einzelzellen Reste des Amtsgerichts. Heute ist dort aber Büromaterial untergebracht.
Im Erdgeschoss liegt der kleinere der beiden Verhandlungssäle. Kleiner, weil sich das Beratungszimmer an seinem Kopfende befindet. Den Saal betritt man durch die Richtertür in seiner Stirnseite, die Haupttür in seiner Mitte oder den separaten Eingang für die Besucher im hinteren Bereich. Der Saal ist auch innen dreigeteilt: der eindrucksvolle Richtertisch mit passenden Stühlen am Kopfende des Raumes, neue, aber passende Tische für die Parteien und Beteiligten in seiner Mitte, hinter einer Trennwand die Klappstühle für die Öffentlichkeit.
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Am Boden Parkett, die Wände halbhoch vertäfelt und die Heizungen klassisch mit Drahtgitter verkleidet. An der Eingangstür fällt die wunderschön gerundete Türblende auf. Auf so viel zeitgenössische Innenausstattung trifft man Jahr 2015 eigentlich nur in Vintagemöbelgeschäften, und dann fehlt dort die passende Architektur.
Auf der anderen Seite der Halle, dem Sitzungssaal gegenüber, befinden sich die Räume der Verwaltung und die Richterzimmer. Die Flure sind hier schlicht und funktional, die Haustechnik lugt hervor.
Eine Etage höher befindet sich der größere der beiden Säle. Am Fenster die klassischen Aufklebevögel zum Schutz von Glas und Tier. Im Flur ein Wandbild, es zeigt das Salomonische Urteil.
Im Saal herrscht nicht Blau, sondern ein blasses Grün als Farbmotto. Doch die Innenausstattung ist nicht weniger opulent und gut erhalten als im Erdgeschoss. Den großen Saal betritt der Besucher sogar durch eine Flügeltür.
Einen Blick wert sind auch die Piktogramme auf den Türen zu den Sanitärräumen. Aber ist die junge Frau mit dem fröhlich wippenden Ponytail wirklich original?
Nur eingeweihte Besucher finden Spuren des dritten Sitzungssaals, den es im Gebäude früher gab. Das heutige Büro des Direktors war Teil dieses Saals. An seiner Tür erkennt man schemenhaft die früher angebrachten Buchstaben – und die Stirnwand ist hier zur Schalldämmung mit Holzleisten verkleidet.
Das Arbeitsgericht Wesel ist ein hervorragend gepflegtes Zeugnis der 50er-Jahre-Architektur, und schon deshalb ein architektonisches Kleinod, das auch außerhalb von Gerichtsverhandlungen einen Besuch wert ist.
Die Serie widmet sich Deutschlands Arbeitsgerichten – den Gebäuden, ihrer Architektur und der Umgebung
Hier geht es zum Arbeitsgericht Offenbach am Main, die vorhergehenden Teile finden Sie hier: Bochum, Bremen, Detmold, Hamburg, Koblenz, Karlsruhe, Darmstadt, Duisburg, Ulm, Stuttgart, Berlin, Ravensburg, München, Saarbrücken, Köln, Siegburg, Frankfurt.