21. April 2020
COVID Telemedizin
Life Sciences & Healthcare

COVID-19: Immerhin ein Schub für die Telemedizin

Leere Wartezimmer, dafür Videosprechstunden, Medical Apps und telefonische Krankschreibungen: COVID-19 gibt der Telemedizin Auftrieb. Bringt dies den lang erwarteten Schub, und was ist der rechtliche Rahmen?

COVID-19 verändert das tägliche Leben vieler Menschen. Der Blick nach Deutschland und in andere Länder zeigt: Einige Krankenhäuser sind an ihren Grenzen, Arztpraxen geschlossen oder im stetigen Bemühen, die mit dem Virus infizierten Patienten von anderen Patienten zu trennen.

Wie in anderen Lebens- und Arbeitsbereichen auch, erscheinen digitale Lösungen als willkommene Alternative. Einen regelrechten Boom erlebt die Videosprechstunde. Der Leiter des Berliner Health Innovation Hubs des Bundesministeriums für Gesundheit, Jörg Debatin, erklärte in einem Interview mit dem Deutschen Ärzteblatt, dass Betreiber von Telemedizinplattformen in den vergangenen Tagen von über 1.000 % Wachstumsraten berichten.

Was sollte bei der Digitalisierung aus berufsrechtlicher und regulatorischer Sicht weiterhin beachtet werden?

Großer Zuwachs bei Ärzten an Videosprechstunden

Ärzte und Psychotherapeuten können ihre Patienten nunmehr unbegrenzt per Videosprechstunde behandeln. Das haben der GKV-Spitzenverband und die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) im Zuge der Corona-Krise im März 2020 beschlossen. Die Regelung ist zunächst auf das zweite Quartal 2020 befristet.

Bisher sollten höchstens 20 % der Behandlungsfälle je Arzt als Videosprechstunde angeboten werden. Auch die Menge der Leistungen, die normalerweise über eine Videosprechstunde erbracht werden dürfen, war bisher auf 20 % beschränkt.

Jetzt steht einer ausschließlichen Behandlung der Patienten per Video jedenfalls aus rechtlicher Sicht nichts mehr im Weg. Selbst der Erstkontakt zwischen Arzt und Patient darf aktuell grundsätzlich auch im Wege der Videosprechstunde erfolgen.

Mit der Neuregelung soll die Ansteckungsgefahr durch das Coronavirus minimiert werden, indem die Patienten zuhause bleiben und möglichst keinen Kontakt zu anderen Personen haben.

Hintergrund der vor der Corona-Krise geltenden Beschränkungen ist im Wesentlichen die in den Landesberufsordnungen der Ärzte normierte ärztlichen Sorgfaltspflicht bei der Behandlung von Patienten.

Als sogenannter Goldstandard gilt, dass grundsätzlich die ärztliche Behandlung im persönlichen Kontakt stattfinden soll und nur unterstützend Kommunikationsmedien genutzt werden sollen. Neue Verfahren und Behandlungsansätze, wie etwa die Videosprechstunde, werden an diesem Goldstandard gemessen.

Eine ausschließliche Fernbehandlung, ohne den persönlichen Kontakt zwischen Arzt und Patient, war auch schon vor der Corona-Krise nach einer Änderung der Musterberufsordnung der Ärzte auf dem 121. Deutschen Ärztetag 2018 im Einzelfall möglich. Die ausschließliche Fernbehandlung muss demnach ärztlich vertretbar sein und die erforderliche ärztliche Sorgfalt, insbesondere die Art und Weise der Befunderhebung, Beratung, Behandlung sowie Dokumentation gewahrt werden. Schließlich muss der Patient über die Besonderheit der ausschließlichen Beratung und Behandlung über Kommunikationsmedien aufgeklärt werden.

Im Zuge dessen wurde das grundsätzliche Fernbehandlungsverbot in den Landesberufsordnungen der Ärzte sowie das Werbeverbot für Fernbehandlungen im Heilmittelwerbegesetz aufgehoben.

Die Lockerung der Beschränkungen soll jedoch an der grundsätzlichen Einzelfallprüfung der Erforderlichkeit einer Videosprechstunde durch den Arzt nichts ändern. Nach den Angaben der Kassenärztlichen Bundesvereinigung sollen Ärzte auch zu Zeiten der Corona-Krise die Videosprechstunde flexibel in den Fällen nutzen, in denen sie diese Herangehensweise für therapeutisch sinnvoll halten. In allen anderen Fällen soll es beim persönlichen Kontakt zwischen Arzt und Patient bleiben.

Videosprechstunden können nach den Angaben der KBV fast alle Arztgruppen einsetzen. Ausgenommen sind nur Laborärzte, Nuklearmediziner, Pathologen und Radiologen.

Bei Psychotherapeuten gilt die Einschränkung, dass die Videosprechstunde grundsätzlich nur dann genutzt werde soll, wenn es bereits einen persönlichen Erstkontakt zur Eingangsdiagnostik, Indikationsstellung und Aufklärung gab und aus therapeutischer Sicht kein unmittelbarer persönlicher Kontakt erforderlich ist.

Technische Voraussetzungen einer Videosprechstunde

Bevor die Behandlung des Arztes oder Psychotherapeuten mittels Videosprechstunde erfolgen kann, sind insbesondere folgende drei Schritte zu beachten:

  • Bereitstellung der technischen Voraussetzungen wie Internetverbindung, Bildschirm, Kamera, Mikrofon und Lautsprecher;
  • Nutzung eines von der KBV zertifizierten Videodienstanbieters;
  • Anzeige / Genehmigung des Angebots einer Videosprechstunde bei der jeweiligen Kassenärztlichen Vereinigung.

Ärzte und Psychotherapeuten können Leistungen im Rahmen der Videosprechstunde erst dann abrechnen, wenn sie ihrer Kassenärztlichen Vereinigung angezeigt haben, einen nach Anlage 31b zum Bundesmantelvertrag-Ärzte zertifizierten Videodienstanbieter nutzen zu wollen.

Aktuell sind auf der Liste der zertifizierten Videodienstanbieter 25 Anbieter aufgelistet.

Um auf diese Liste zu kommen, müssen bestimmte rechtliche Voraussetzungen erfüllt werden. Dabei stehen auf Seiten des Videodienstanbieters insbesondere der Datenschutz der Patientendaten sowie bestimmte technische Anforderungen an die Software, die Verbindung und die Speicherung der Daten im Fokus.

Krankschreibungen per Telemedizin

Auch Krankschreibungen sind vorübergehend erleichtert worden. Die KBV hat vorübergehend die Vorschriften für die Ausstellung von Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen gelockert. In bestimmten Fällen reicht ein Telefonanruf für eine Krankschreibung aus. Um diese Ausnahme gab es in den letzten Tagen einige Verwirrung. Nachdem sie mit Beschluss des Gemeinsamen Bundesausschusses vom 17. April 2020 zunächst wieder beendet worden war, revidierte der Gemeinsame Bundesausschuss sie am 21. April 2020. Die Erleichterungen bei der Krankschreibung gelten nun wieder, zunächst befristet bis zum 4. Mai 2020. Hintergrund ist, dass Patienten mit Krankheitssymptomen möglichst zuhause bleiben können, um die Ansteckungsgefahr zu reduzieren. Zudem sei nach Aussage des Vorsitzenden des Gemeinsamen Bundesausschusses, Herrn Prof. Hecken, Grund für die Einlenkung die Einschätzungen aus der Versorgungspraxis, die wegen zum Teil noch fehlender Schutzausrüstungen weiterhin eine Gefährdungslage für Patienten in den Praxen sehen.

Vor der Corona-Krise hatte sich bereits ein Hamburger Startup die Frage gestellt, ob eine Krankschreibung nicht auch ohne persönlichen Arztbesuch möglich sein könnte. Es hatte allerdings vor dem Landgericht Hamburg eine Niederlage erlitten (LG Hamburg, Urteil v. 3. September 2019 – 406 HKO 56/19).

Das Startup hat eine Onlineplattform entwickelt, bei der der Patient nicht zum Arzt gehen muss, um eine Krankschreibung für den Arbeitgeber zu erhalten. Dabei sollte nicht die Behandlung des Patienten per Videosprechstunde im Vordergrund stehen, sondern die Krankschreibung an sich.

Es wurde damit geworben, dass der Patient im Falle einer Erkältung für nur EUR 9 eine gültige Krankschreibung vom Tele-Arzt über WhatsApp und per Post erhält.

Das Konzept dahinter war – nach Aussage des Startups – ein von einem Arzt entwickelter Fragebogen, den der Patient beantworten musste. Darin sollte er seine Symptome beschreiben, Risiken ausschließen und in Anschluss seine Kontakt- und Versichertendaten angeben. Für die Krankschreibung sollte der Patient EUR 9 bezahlen. Im zweiten Schritt sollte ein Arzt nach der Ferndiagnose eine Krankschreibung ausstellen, die dem Arbeitgeber vorgelegt werden kann, ohne den Patienten im Normalfall zu sprechen.

Das Landgericht Hamburg hat im September 2019 rechtskräftig diese Praxis als unlauter erklärt.

Die Praxis sei unvereinbar mit dem Gebot der ärztlichen Sorgfalt. Die Ausstellung ärztlicher Atteste – wie der Krankschreibung – erfordere grundsätzlich einen unmittelbaren Kontakt zwischen Arzt und Patient. Ohne diesen könne der Arzt nicht mit der gebotenen Sorgfalt feststellen, ob der Patient tatsächlich an der von ihm vermuteten oder behaupteten Erkrankung leide. Eine Verifizierung der Angaben der Patienten sei selbst dann nicht möglich, wenn der Arzt Rücksprache mit dem Patienten per Telefon oder Video-Chat hält. In Zweifelsfällen sei eine körperliche Untersuchung des Patienten nicht möglich.

Das Gericht stützt sich dabei auf § 25 Hamburger Berufsordnung für Ärzte. Danach hat der Arzt bei der Ausstellung ärztlicher Gutachten – wie der Krankschreibung – mit der notwendigen Sorgfalt zu verfahren und nach bestem Wissen seine ärztliche Überzeugung auszusprechen. Vieles spricht dafür, dass der Fall auch in Zeiten zu Corona nicht anders bewertet werden würde. Denn auch derzeit gilt sowohl bei der Behandlung als auch bei der Krankschreibung der Grundsatz der ärztlichen Sorgfaltspflicht.

Chancen der Telemedizin nutzen

So negativ die COVID-19 Pandemie ist: Für die Digitalisierung im Gesundheitssektor bringt sie positive Impulse. Am augenfälligsten ist dies mit Blick auf die Videosprechstunde, die exorbitante Zuwächse verzeichnet. Interessant wird sein, ob und inwieweit sich diese Entwicklung auch über die Krisenzeit hinaus festigen wird. Gerade für Unternehmen, die digitale und telemedizinische Lösungen anbieten, ist dies wichtig. Die Beschränkung der Videosprechstunden ist zunächst bis zum 30. Juni 2020 ausgesetzt. Spätestens am 31. Mai 2020 wollen die Spitzenverbände der Ärzte und Krankenkassen eine mögliche Verlängerung prüfen. Die Regelung zur Lockerung der Krankschreibungsvoraussetzungen ist, vorbehaltlich der Prüfung durch das BMG und der Veröffentlichung im Bundesanzeiger, bis zum 4. Mai 2020 befristet.

Es bleibt abzuwarten, ob die Beschränkungslockerungen der Videosprechstunde nach Abklingen der Pandemie wieder gänzlich zurückgenommen werden und Ärzte und Psychotherapeuten wieder nur 20% der Behandlungsfälle und der Leistungen im Wege der Videosprechstunde anbieten dürfen.

Es erscheint jedoch auch möglich, dass das Gesundheitssystem die Vorteile einer voranschreitenden Digitalisierung im Gesundheitswesen vermehrt erkennt und – immer unter Beachtung der ärztlichen Sorgfaltspflicht – die Digitalisierung weiter vorantreibt. Damit würde auch Herstellern digitaler Gesundheitsanwendungen und anderer unterstützender Software der Markt weiter geebnet.

Dieser Markt ist derzeit ohnehin stark in Bewegung, die rechtlichen Rahmenbedingungen werden sich demnächst ändern. Die App auf Rezept wird bald Realität werden. Gerade hat das Bundesministerium für Gesundheit den Entwurf der Digitale Gesundheitsanwendungen-Verordnung (DiGAV) veröffentlicht. Es konkretisiert insoweit das Digitale-Versorgung-Gesetz (DVG). Flankiert wird es zudem durch den ebenfalls kürzlich veröffentlichten Leitfaden des Bundesministeriums für Arzneimittel (BfArM) für das so genannte Fast-Track-Verfahren für digitale Gesundheitsanwendungen (DiGA). Die nächsten Wochen werden zeigen, ob der vom Gesetzgeber angestrebte Schub für die Digitalisierung nicht nur durch COVID-19, sondern auch durch den neuen regulatorischen Rahmen, Wirklichkeit wird.

In unserer Blogserie zu „Coronavirus: Handlungsempfehlungen für Unternehmen″ zeigen wir anhand der aktuellen Situation unternehmensbezogene Stolpersteine auf, die in Krisenzeiten zu beachten sind. Bereits erschienen sind Beiträge zu Verhandlungen, Verjährungen und Verfristungen sowie Haftungsfragen bei Absagen von Messen- und Veranstaltungen, zum Datenschutz trotz Corona und zu  Möglichkeiten von Aktiengesellschaften zur Cash-Ersparnis sowie Vermögensübertragungen zu steuergünstigen Konditionen. In weiteren Beiträgen gehen wir ein auf die Erstellung eines Notfallplans, auf Vertriebsverträge und Tips Lieferanten in Krisenzeiten und auf Auswirkungen auf Lebensmittel- und Hygieneverordnungen. Im Anschluss haben wir uns mit der streitigen (gerichtliche) Auseinandersetzung befasst, sind auf kartellrechtliche Auswirkungen sowie die Bedeutung für den Kapitalmarkt eingegangen. Näher befasst haben wir uns auch mit „infizierten″ Vertragsverhandlungen, den Änderungen in Mittel- und Osteuropa sowie mit klinischen Studien und dem neuen EU-Leitfaden für Sponsoren uns Prüfärzte. Weiter geht es mit Pflichten zur Abgabe der Steuererklärung und eventuell steuerstrafrechtlichen Haftungsrisiken, dem Moratorium für Zahlungsverpflichtungen von Verbrauchern und Kleinstunternehmern, Unterstützungsmaßnahmen für Start-ups, das Kurzarbeitergeld, sowie den Erleichterungen für Stiftungen und Vereine und GmbH-Gesellschafterbeschlüsse. Es folgten weitere Beiträge zu Kooperationen im Gesundheitswesen und zu Sachspenden an Krankenhäuser, zum Marktzugang für persönliche Schutzausrüstung und Medizinprodukte, zur Beschlagnahmemöglichkeit von Schutzausrüstung durch den Staat und zu Auswirkungen auf laufende IT-Projekte


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