Vorverlagerung des Zeitpunkts der Zahlungsunfähigkeit durch Einbeziehung der Passiva 2 in die Liquiditätsbilanz (BGH II ZR 88/16).
Insbesondere für Geschäftsführer einer Gesellschaft ist eine verlässliche Methode zur Bestimmung der Zahlungsunfähigkeit unverzichtbar. Schließlich löst die Zahlungsunfähigkeit einer Gesellschaft unmittelbar insolvenzspezifische Pflichten für Geschäftsführer aus. Die Nichteinhaltung dieser Pflichten kann für jene empfindliche straf- und zivilrechtliche Konsequenzen nach sich ziehen.
Der BGH (Urteil v. 19. Dezember 2017 – II ZR 88/16) spezifiziert die Methode zur Bestimmung der Zahlungsunfähigkeit und ist daher von erheblicher praktischer Relevanz.
Geschäftsführer sollten finanzielle Lage der Gesellschaft stetig überwachen
Gemäß § 15a Abs. 1 InsO sind Geschäftsführer einer Gesellschaft verpflichtet, ohne schuldhaftes Zögern, spätestens jedoch drei Wochen nach Feststellung der Zahlungsunfähigkeit und/oder Überschuldung der Gesellschaft, einen Insolvenzeröffnungsantrag zu stellen.
Grundvoraussetzung einer Überschuldung ist, dass das schuldnerische Vermögen nicht mehr genügt, um die bestehenden Verbindlichkeiten zu bedienen. Dieser Status wir durch die Erstellung einer vorinsolvenzlichen Bilanz bestimmt, die die aktuellen Vermögenswerte mit ihren Liquidationswerten darstellt. Ansprüche der Gesellschafter aus einem dem Schuldner gewährten Darlehen (oder einem Darlehen wirtschaftlich entsprechender Rechtshandlung) müssen bei der Aufstellung der Bilanz als Verbindlichkeit einbezogen werden, wenn hinsichtlich dieser nicht ein Rangrücktritt erklärt wurde. Kommt ein Geschäftsführer dieser Pflicht nicht nach, stellt dies mitunter eine strafbare Handlung dar und der Geschäftsführer sieht sich möglicherweise gravierenden Schadenersatzforderungen der Gläubiger der Gesellschaft ausgesetzt.
Darüber hinaus ermöglicht es das deutsche Insolvenzrecht den Gesellschaften, ihre (ehemaligen) Geschäftsführer für jedwede Zahlung, die nach Eintritt von Zahlungsunfähigkeit und/oder Überschuldung getätigt wurde, persönlich in Haftung zu nehmen. Derartige Haftungsansprüche werden regelmäßig seitens der Insolvenzverwalter gegenüber Geschäftsführern geltend gemacht, nachdem das Insolvenzverfahren über das Vermögen der schuldnerischen Gesellschaft eröffnet wurde. Oftmals führt dies zum finanziellen Ruin der Anspruchsgegner.
Zur Vermeidung solcher Risiken ist es für Geschäftsführer unerlässlich, stetig und genau die finanzielle Lage der Gesellschaft zu bewerten und zu überwachen (idealerweise in Zusammenarbeit mit den rechtlichen und steuerlichen Beratern der Gesellschaft). Dies gilt insbesondere, wenn und soweit sich die Gesellschaft bereits in finanziellen Schwierigkeiten befindet oder bereits einen Restrukturierungsprozess durchläuft.
In regelmäßigen Abständen Liquiditätsbilanz erstellen
Die Insolvenzordnung definiert die Zahlungsunfähigkeit in § 17 Abs. 2 Satz 1 InsO als Unfähigkeit des Schuldners, die fälligen Zahlungspflichten zu erfüllen. Zahlungsunfähigkeit ist regelmäßig indiziert, wenn die schuldnerische Gesellschaft ihre Zahlungen an Gläubiger einstellt. Jedoch kann eine Zahlungsunfähigkeit nicht bereits dann angenommen werden, wenn es sich nur um eine vorübergehende Zahlungsstockung handelt. Dies ist der Fall, wenn die Liquiditätslücke innerhalb kurzer Zeit (in der Regel maximal drei Wochen) auf maximal 10 % im Wege erwarteter Zahlungseingänge, neuer Darlehen oder dem Verkauf von Anlagevermögen reduziert werden kann.
Zur Feststellung der Zahlungsfähigkeit ist in regelmäßigen Abständen eine Liquiditätsbilanz zu erstellen. Diesbezüglich ist unstreitig, dass auf der Aktivseite alle Vermögenswerte aufzuzeigen sind, die den Gläubigern aktuell zur Verfügung stehen (Aktiva 1). Darüber hinaus dürfen alle Vermögenswerte, die innerhalb von drei Wochen liquidiert werden können, ebenfalls auf die Aktivseite der Bilanz gebucht werden (Aktiva 2).
Die Passivseite der Liquiditätsbilanz muss alle aktuellen Verbindlichkeiten des Schuldners enthalten, die fällig sind und von den Gläubigern ernsthaft eingefordert wurden (Passiva 1). Bisher jedoch war in Rechtsprechung und Literatur heftig umstritten, ob auch solche Verbindlichkeiten mit in die Liquiditätsplanung einzubeziehen sind, die innerhalb von drei Wochen nach Stichtag der Bilanz fällig werden (Passiva 2) (Contra: OLG Hamburg, Urt. v. 29. April 2009 – 11 U 48/08; G. Fischer, ‘Zur Feststellung der Zahlungsunfähigkeit – Folgerungen aus der Rechtsprechung des IX. Zivilsenats’, C. Berger, G. Kayser und K. Pannen (Hrsg.), Festschrift Ganter (C.H. Beck Verlag, München, 2010), Rn. 153, 158 ff.; Pro: K. Schmidt (Hrsg.), Insolvenzordnung (19. Auflage, C.H. Beck Verlag, München, 2016), § 17 Rn. 23, 25, 29; G. Eilenberger in H.-P. Kirchhof, R. Stürner und H. Eidenmüller (Hrsg.), Münchener Kommentar zur Insolvenzordnung (3. Auflage, C.H. Beck Verlag, München, 2013), § 17 Rn. 19 ff.)
BGH: Passiva 2 in der Liquiditätsbilanz zu berücksichtigen
Der für Gesellschaftsrecht zuständige II. Zivilsenat des BGH entschied, dass auch Passiva 2 in der Liquiditätsbilanz zu berücksichtigen seien. Die Entscheidung ist aus hiesiger Sicht nicht zwingend überraschend, insbesondere vor dem Hintergrund, dass der Vorsitzende des II. Zivilsenats, Prof. Dr. Ingo Drescher, bereits im Jahr 2009 in der Literatur für eine Implementierung der Passiva 2 argumentierte (I. Drescher, Die Haftung des GmbH-Geschäftsführers, 7. Auflage, C.H. Beck Verlag, München, 2013, Rn. 535).Ob der unter anderem für Insolvenzrecht zuständige IX. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs sich dieser Rechtsprechung anschließt, bleibt abzuwarten. Allerdings spricht die Tatsache, dass der Vorsitzende des IX. Senats, Prof. Dr. Godehard Kayser, bereits seine Sympathie für diesen Ansatz bekundet hat (G. Kayser, Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Insolvenzrecht, 6. Auflage, Luchterhand, München, 2012, A.II.1. Rn. 16), zumindest tendenziell dafür.
Näher betrachtet zeigt sich, dass das Hauptargument des Gerichts für die Einbeziehung der Passiva 2 in die Liquiditätsbilanz rein teleologischer Natur ist. Sinn und Zweck der Insolvenzordnung sei die bestmögliche Befriedigung der Gläubigergesamtheit.
Dies kann nur dann erreicht werden, wenn das Insolvenzverfahren recht- und frühzeitig eröffnet wird. Eine frühzeitige Eröffnung des Insolvenzverfahrens führt häufig zu
- besseren Möglichkeiten einer Restrukturierung des schuldnerischen Unternehmens und kann
- verhindern, dass das verbliebene Vermögen der Gesellschaft (vorsätzlich oder fahrlässig) zum Nachteil der Gläubigergesamtheit vermindert wird.Dies würde jedoch untergraben werden, ließe man die Passiva 2 bei Aufstellung der Liquiditätsbilanz außer Acht. Denn dann wäre es dem Schuldner unbenommen, „frische“ Aktiva 2 zur Tilgung „alter“ Passiva 1 aufzuwenden. Es bestünde die Möglichkeit, eine bestehende Unterdeckung künstlich über Tage oder Wochen zu unterdrücken, was zur Folge haben könnte, dass die Unterdeckung noch größer wird mit der Zeit.
Jedoch sind die Passiva 2 nur in einer solchen Liquiditätsbilanz zu berücksichtigen, in der auch die Aktiva 2 herangezogen werden. Andernfalls würden nicht fällige Verbindlichkeiten für die Feststellung einer eingetretenen Zahlungsunfähigkeit herangezogen, was nicht Intention des II. Senats gewesen sein dürfte. Reichen also die Aktiva 1 aus um die Passiva 2 zu wenigstens 90 % abzudecken, wären die Passiva 2 nicht mehr zu berücksichtigen. Allerdings könnten zu hohe Passiva 2 einen Rückschluss auf eine drohende Zahlungsunfähigkeit zulassen.
Frühzeitige Insolvenzantragstellung, um Haftungsansprüchen zu entgehen
Die vorliegende Entscheidung konstituiert die Relevanz von Passiva 2 für die Bewertung der aktuellen Liquidität eines Unternehmens. Es ist damit zu rechnen, dass Insolvenzverwalter zukünftig noch entschlossener und erfolgreicher Haftungsansprüche gegen Geschäftsführer verfolgen werden, da mit der Entscheidung des Bundesgerichtshofs der Eintritt der Zahlungsunfähigkeit nunmehr auf einen früheren Zeitpunkt vorverlegt wird.
Für die Geschäftsführer ist es von nun an noch wichtiger, die finanzielle Lage der Gesellschaft jederzeit zu bewerten und zu überwachen. In Zweifelsfällen sind sie gut beraten, rechtliche und betriebswirtschaftliche Hilfe in Anspruch zu nehmen, sobald die ersten Anzeichen für Liquiditätsengpässe auftreten.
Unsere Beitragsreihe informiert rund um die Restrukturierung eines Unternehmens innerhalb und außerhalb einer Insolvenz. Den Auftakt machte eine Einführung in die Unternehmensinsolvenz und -restrukturierung. In den folgenden Beiträgen beleuchteten wir die Haftung von Geschäftsführern bei Insolvenzverfahren in Eigenverwaltung sowie das Insolvenzgeld und die Insolvenzgeldvorfinanzierung in der Praxis. Des Weiteren widmeten wir uns der Reform zum neuen Insolvenzanfechtungsrecht, der Insolvenzantragspflicht und den Insolvenzgründen für Unternehmen. Anschließend berichteten wir über die Entscheidung des EuGH zum Beihilfecharakter der Sanierungsklausel sowie die Vorverlagerung des Zeitpunkts der Zahlungsunfähigkeit. Daraufhin setzten wir uns mit dem Ablauf des Insolvenzantrags und des Insolvenzeröffnungsverfahrens und dem Insolvenzantrag durch Gläubiger auseinander. Danach wurde die Insolvenzforderung vs. Masseforderung, Verkürzung des Schutzes durch D&O – Versicherungen und Forderungen und Gesellschafterdarlehen in der Insolvenz betrachtet. Weiter erschienen Beiträge zum Insolvenzantrag bei drohender Zahlungsunfähigkeit – Entmachtung des Gesellschafters oder Haftungsfalle für die Geschäftsführung, zu Gläubigerrechten in der Krise oder Insolvenz des Schuldners, zu Gläubigerausschuss und Gläubigerversammlung sowie zu Pensionsansprüchen des beherrschenden GmbH-Gesellschafter-Geschäftsführers in der GmbH-Insolvenz. Es folgten Beiträge zum Schutz vor der Insolvenzanfechtung durch Bargeschäfte und der Steuerfreiheit für Sanierungsgewinne. Anschließend erschien ein Beitrag zum Wahlrecht des Insolvenzverwalters sowie Beiträge zum fehlenden Fiskusprivileg in der vorläufigen Eigenverwaltung, der ESUG Evaluation und zur Mindestbesteuerung in der Insolvenz. Auch erschienen Beiträge zur Aufrechnung in der Insolvenz, zu Aus- und Absonderungsrechten und zum Insolvenzplanverfahren sowie zum Lieferantenpool. Weiter haben wir zu Folgen und Wirkungen der Eröffnung eines Insolvenzverfahrens, über das Konzerninsolvenzrecht und die Treuepflichten in der Krise sowie Cash Pooling als Finanzierungsinstrument im Konzern berichtet. Zuletzt klärten wir über die Haftung von Geschäftsführern und Vorständen für Zahlungen in der Krise, über das französische Insolvenzverfahren, die Procédure de Sauvegarde und Sauvegarde financière accélérée, sowie die Forderungsanmeldung und Haftung von Geschäftsleitern für Verletzungen von Steuerpflichten auf. Ebenfalls zeigen wir die Grundlagen von Sanierungskonzepten und Sanierungsgutachten auf und gehen auf das Verhältnis von Kurzarbeiter- und Insolvenzgeld ein. Zuletzt haben wir uns mit dem Datenschutz im Asset-Deal beschäftigt.