Der IX. Senat des BGH hat am 26. April 2018 (IX ZR 238/17) entschieden, dass die Geschäftsführer im Rahmen eines Insolvenzverfahrens in Eigenverwaltung analog §§ 60, 61 InsO haften.
Vor der Insolvenz haftet der Geschäftsführer einer GmbH grundsätzlich nur der Gesellschaft gegenüber, §§ 43, 64 GmbHG (sog. Innenhaftung). Eine Haftung gegenüber Dritten (sog. Außenhaftung) kann ausnahmsweise etwa bei deliktischem Handeln greifen.
Die Frage war, ob sich mit dem Eintritt in die Eigenverwaltung die Außenhaftung für den Geschäftsführer erweitert bzw. verschärft. Der BGH hat die Außenhaftung analog §§ 60, 61 InsO bejaht (Urteil v. 26.04.2018 – IX ZR 238/17).
Klage auf Ersatz eines Forderungsausfallschadens
Der Beklagte wurde im September 2014 als weiterer Geschäftsführer der Komplementär-GmbH der bereits seit Ende März 2014 insolventen GmbH & Co. KG bestellt. Im Vorfeld war er für die Gesellschaft als Sanierungsexperte tätig. Der Beklagte sowie der weitere noch tätige Geschäftsführer erstellten im Oktober 2014 einen Insolvenzplan, der neben der Befriedigung der Gläubiger und dem Erhalt der Arbeitsplätze eine Fortführung der Schuldnerin ermöglichen sollte. Die Gläubigerversammlung stimmte diesem zu.
Nach rechtskräftiger Bestätigung des Insolvenzplans wurde das Insolvenzverfahren mit Beschluss vom 28. Januar 2015 aufgehoben. Die zwischenzeitlich am 9. Dezember 2014 durch die Schuldnerin bei der Klägerin bestellte Damenoberbekleidung, deren Lieferung am 30. April 2015 zu erfolgen hatte, wurde der Schuldnern nach Ausführung der Leistung am 6. Mai 2015 vereinbarungsgemäß in Rechnung gestellt. Der Betrag von EUR 87.120,49 blieb unbeglichen. Auf einen Eigenantrag vom 18. Juni 2015 wurde über das Vermögen der inzwischen umfirmierten Schuldnerin erneut ein Insolvenzverfahren eröffnet. Die Klägerin nahm daraufhin den Beklagten auf Ersatz ihres Forderungsausfallschadens von EUR 87.120,49 in Anspruch.
Vorinstanzen: Keine Haftung der Geschäftsführer in der Eigenverwaltung analog §§ 60, 61 InsO
Die Vorinstanzen (LG und OLG Düsseldorf) hatten noch eine analoge Anwendung der Regelung über die Haftung des Sachwalters (und des Insolvenzverwalters) auch auf den Sanierungsgeschäftsführer ausdrücklich abgelehnt. Nach Ansicht des OLG Düsseldorf (Urteil v. 07.09.2017 – I-16 U 33/17) fehle es für eine Analogie dieser Haftung schon an einer unbeabsichtigten Gesetzeslücke.
Der Gesetzgeber habe die grundsätzliche Problematik der Haftung in der Eigenverwaltung sehr wohl gesehen und eine im Vergleich zur Haftung des Insolvenzverwalters auf § 60 InsO analog begrenzte Haftung des Sachwalters statuiert. Die Nichtanwendung des § 61 InsO auf den Sachwalter sei dabei bewusst erfolgt, weil der Schuldner verwaltungs- und verfügungsbefugt bleibe und damit bei der Begründung von Masseverbindlichkeiten grundsätzlich frei sei, so dass den Sachwalter keine Mitverantwortung treffe. Angesichts dieser gesetzgeberischen Entscheidung für eine ausdrücklich auf den Insolvenzverwalter und den Sachwalter begrenzte Haftung, ergebe sich keine planwidrige Gesetzeslücke, die eine Ausnahme von der grundsätzlichen Haftungsentscheidung des § 43 GmbHG erforderlich mache.
BGH: Geschäftsführer haften bei Insolvenzverfahren in Eigenverwaltung analog §§ 60, 61 InsO
Der BGH konstatiert zunächst nach ausführlicher Prüfung, dass kein direkter Anspruch gegenüber dem im Rahmen der Eigenverwaltung hinzugetretenen Geschäftsführer gegeben ist. Er hält dann jedoch die Vorschriften für die Insolvenzverwalterhaftung (§§ 60, 61 InsO) analog für anwendbar.
Das Gesetz enthalte im Blick auf die Haftung der Geschäftsleiter bei Anordnung der Eigenverwaltung über das Vermögen einer insolventen Gesellschaft eine unbeabsichtigte Regelungslücke, weil die Verweisung des § 270 Abs. 1 Satz 2 InsO auf §§ 60, 61 InsO die Organe des Schuldners nicht unmittelbar erfasst. Das Gesetz habe jedoch durch die Verweisung des § 270 Abs. 1 Satz 2 InsO die Haftungsbestimmungen der §§ 60, 61 InsO im Eigenverwaltungsverfahren grundsätzlich für anwendbar erklärt.
Allerdings sei sich der Gesetzgeber nicht darüber im Klaren gewesen, wie sich die Verweisung des § 270 Abs. 1 Satz 2 InsO auch auf die Bestimmungen der §§ 60, 61 InsO bei Anordnung der Eigenverwaltung über das Vermögen einer Gesellschaft gestalte, die durch ihre Organe vertreten wird. Insoweit besteht nach Ansicht des BGH eine planwidrige Regelungslücke. Maßgebend für die Haftungsregime in der Eigenverwaltung sei der erweiterte und geänderte Pflichtenkreis des GmbH-Geschäftsführers in der Eigenverwaltung. Hierzu führt der BGH aus:
„Die Geschäftsleiter werden nach Eröffnung des Eigenverwaltungsverfahrens nicht mehr allein aufgrund ihrer gesellschaftsrechtlichen Leitungsmacht tätig, sondern nehmen auch und vor allem insolvenzrechtliche Rechte und Pflichten für die Gesellschaft wahr. Faktisch nehmen die Geschäftsleiter einer Gesellschaft im Rahmen der Eigenverwaltung weitgehend die Befugnisse wahr, die im Regelverfahren dem Insolvenzverwalter obliegen.“
Der Geschäftsführer ist in der Eigenverwaltung nicht mehr an Anordnungen der gesellschaftsrechtlichen Überwachungsorgane gebunden. Er entscheidet selbstständig über die Erfüllung beiderseits nicht vollständig abgewickelter Verträge sowie über die Ausübung von Sonderkündigungsrechten. Ferner kann er die Feststellung einer Forderung zur Tabelle kraft Widerspruchs verhindern. Schließlich entscheiden sie über die Aufnahme unterbrochener (§ 240 ZPO) Rechtsstreitigkeiten. Auf diese Weise hat der Gesetzgeber den Pflichtenkreis und die Rechtsstellung der Geschäftsleiter in der Eigenverwaltung einer Gesellschaft noch stärker dem Amt eines Insolvenzverwalters angeglichen, der im Falle einer Pflichtverletzung nach §§ 60, 61 InsO haftet. Vor diesem Hintergrund ist es nicht unangemessen, den Geschäftsführer in der Eigenverwaltung dem persönlichen Haftungsregime des Insolvenzverwalters zu unterwerfen.
Der BGH führt konsequent aus (gekürzt dargestellt):
„Verantwortet die Geschäftsleitung einer eigenverwalteten Gesellschaft im weiten Umfang Funktionen eines Insolvenzverwalters, muss sie notwendigerweise für etwaige Pflichtverletzungen in diesem Bereich gleich einem Insolvenzverwalter haften.“
Weiter heißt es:
„Nach dem Willen des Gesetzes (§ 270 Abs. 2 Nr. 2 InsO) darf die Eigenverwaltung nur angeordnet werden, wenn sie nicht zu Nachteilen für die Gläubiger führen wird, zu denen auch die Massegläubiger zählen. Nachteile ließen sich nicht ausschließen, wenn die Verfahrensbeteiligten haftungsrechtlich einen geringeren Schutz als in einem Regelverfahren genießen würden. Die Gleichstellung des Eigenverwaltungsverfahrens mit dem Regelverfahren erfordert daher als Äquivalent der Haftung des Insolvenzverwalters eine Haftung der Geschäftsleiter.“
Fazit: Geschäftsführer unterliegen in der Eigenverwaltung einer umfangreichen Außenhaftung
Der BGH dürfte mit seinem Urteil die bis dato umstrittene und ungeklärte Frage, ob und wenn ja, welche Haftungsnormen für die Geschäftsleiter in der Eigenverwaltung einschlägig sind, entschieden haben. Der Geschäftsführer haftet demnach allen Beteiligten gegenüber, wenn er schuldhaft seine Pflichten verletzt und den Massegläubigern gegenüber, wenn Masseverbindlichkeiten eingegangen wurden, die nicht von der Insolvenzmasse erfüllt werden können.
Die Entscheidung des BGH verschafft Rechtssicherheit für alle Beteiligten im Vorfeld und im Rahmen eines Insolvenzverfahrens. Verantworten die Organe in der Eigenverwaltung wesentliche Entscheidungen, funktionsgleich denen eines Insolvenzverwalters, erscheint es nicht unangemessen, das Pflichtenprogramm der §§ 60, 61 InsO auf die Handelnden in der Eigenverwaltung zu übertragen und der gleichen Haftung zu unterwerfen. Es bleibt abzuwarten, ob der Gesetzgeber im Rahmen der wohl noch nicht abgeschlossenen ESUG-Evaluation tätig wird, beide Normen überarbeitet oder entsprechende Regelungen in den Einzelgesetzen (GmbHG, AktG etc.) schafft.
Folgen der BGH-Entscheidung für die Praxis
Der Geschäftsführer eines insolventen Unternehmens in der Eigenverwaltung ist für Kunden, Lieferanten und sonstige Vertragspartner ein zusätzlicher potentieller Schuldner, in dessen persönliches Vermögen grundsätzlich vollstreckt werden kann.
Bezweifelt werden muss, ob dieses Urteil im Einklang mit einem der gesetzgeberischen Ziele des ESUG steht, insolvente Unternehmen im Rahmen von Eigenverwaltungsverfahren zu sanieren. Es ist fraglich, ob die Geschäftsführer zukünftig bereit sind, diesem Haftungsrisiko zu unterliegen und die Geschäftsführung in der Eigenverwaltung zu übernehmen. Um dieser Haftung zu entgehen, bliebe dann nur noch die Eröffnung eines Regelinsolvenzverfahrens.
Geschäftsleiter sind gut beraten, entsprechende D&O-Policen abzuschließen bzw. bei bestehenden Policen die Bestätigung des D&O-Versicherers einzuholen, dass auch Ansprüche analog §§ 60, 61 InsO für den Fall eines Insolvenzverfahrens in Eigenverwaltung versichert sind.
Unsere Beitragsreihe informiert rund um die Restrukturierung eines Unternehmens innerhalb und außerhalb einer Insolvenz. Den Auftakt machte eine Einführung in die Unternehmensinsolvenz und -restrukturierung. In den folgenden Beiträgen beleuchteten wir die Haftung von Geschäftsführern bei Insolvenzverfahren in Eigenverwaltung sowie das Insolvenzgeld und die Insolvenzgeldvorfinanzierung in der Praxis. Des Weiteren widmeten wir uns der Reform zum neuen Insolvenzanfechtungsrecht, der Insolvenzantragspflicht und den Insolvenzgründen für Unternehmen. Anschließend berichteten wir über die Entscheidung des EuGH zum Beihilfecharakter der Sanierungsklausel sowie die Vorverlagerung des Zeitpunkts der Zahlungsunfähigkeit. Daraufhin setzten wir uns mit dem Ablauf des Insolvenzantrags und des Insolvenzeröffnungsverfahrens und dem Insolvenzantrag durch Gläubiger auseinander. Danach wurde die Insolvenzforderung vs. Masseforderung, Verkürzung des Schutzes durch D&O – Versicherungen und Forderungen und Gesellschafterdarlehen in der Insolvenz betrachtet. Weiter erschienen Beiträge zum Insolvenzantrag bei drohender Zahlungsunfähigkeit – Entmachtung des Gesellschafters oder Haftungsfalle für die Geschäftsführung, zu Gläubigerrechten in der Krise oder Insolvenz des Schuldners, zu Gläubigerausschuss und Gläubigerversammlung sowie zu Pensionsansprüchen des beherrschenden GmbH-Gesellschafter-Geschäftsführers in der GmbH-Insolvenz. Es folgten Beiträge zum Schutz vor der Insolvenzanfechtung durch Bargeschäfte und der Steuerfreiheit für Sanierungsgewinne. Anschließend erschien ein Beitrag zum Wahlrecht des Insolvenzverwalters sowie Beiträge zum fehlenden Fiskusprivileg in der vorläufigen Eigenverwaltung, der ESUG Evaluation und zur Mindestbesteuerung in der Insolvenz. Auch erschienen Beiträge zur Aufrechnung in der Insolvenz, zu Aus- und Absonderungsrechten und zum Insolvenzplanverfahren sowie zum Lieferantenpool. Weiter haben wir zu Folgen und Wirkungen der Eröffnung eines Insolvenzverfahrens, über das Konzerninsolvenzrecht und die Treuepflichten in der Krise sowie Cash Pooling als Finanzierungsinstrument im Konzern berichtet. Zuletzt klärten wir über die Haftung von Geschäftsführern und Vorständen für Zahlungen in der Krise, über das französische Insolvenzverfahren, die Procédure de Sauvegarde und Sauvegarde financière accélérée, sowie die Forderungsanmeldung und Haftung von Geschäftsleitern für Verletzungen von Steuerpflichten auf. Ebenfalls zeigen wir die Grundlagen von Sanierungskonzepten und Sanierungsgutachten auf und gehen auf das Verhältnis von Kurzarbeiter- und Insolvenzgeld ein. Zuletzt haben wir uns mit dem Datenschutz im Asset-Deal beschäftigt.